Skulptur 5 ARCS X 5 von Bernar Venet, vor dem Stadttheater Duisburg. Foto: Udo Weier

Julian Barnes. Der Lärm der Zeit.

In unruhigen Nächten schläft er in seinem Anzug. Neben ihm steht sein gepackter Koffer. Einige Nächte verbringt er mit seinem Koffer vor dem Aufzug seiner Wohnung und wartet ängstlich, ob sich der Fahrstuhl auf seiner Etage öffnet und „Sie“ ihn zum Verhör in das Große Haus am Liteiny Prospekt abholen. Nacht für Nacht erwartet er seine Verhaftung. Er lebt in ständiger Angst, die seine Unsicherheit und Willensschwäche verstärkt.
Mit dieser starken Szene beginnt der Roman von Julian Barnes über den Komponisten Dmitri Schostakowitsch, die seine Angst schildert, während des Stalinismus jederzeit ermordet zu werden. In diesen Nächten vor dem Fahrstuhl denkt Schostakowitsch über sein vergangenes Leben nach. Welche Ereignisse sein Leben und Schicksal beeinflussten und alles erscheint ihm logisch.

Das kommt also beim Lauf der Geschichte heraus. So viel Streben, Idealismus, Hoffnung, Fortschritt, Wissenschaft, Kunst und Gewissen, und am Ende steht ein Mann am Aufzug mit einem kleinen Koffer voller Zigaretten, Unterwäsche und Zahnpulver; er steht da und wartet darauf, dass sie ihn abholen.1

Der Stalinismus strebt die vollständige Kontrolle der Menschen an. Für Stalin sind die Künstler „Ingenieure der menschlichen Seele“4. Dies zeigt das Kunst- und Menschenbild des Stalinismus: Die Menschen sind Maschinen und Gegenstände, die gegen ihre Willen für ein politisches Ziel angepasst werden. Mit Dogmen schränkt der Stalinismus die Kreativität der Künstler ein. Der Sozialistische Realismus ist das Kunstdiktat der Partei; Experimente sind unerwünscht.
Mit seiner 1. Sinfonie wurde Schostakowitsch ein gefeierter Komponist. Doch mit seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk verstieß er gegen die Normen der stalinistischen Kulturpolitik und gegen den Kunstgeschmack Stalins. Auf dem Bahnhof von Archangelsk liest er in der Prawda einen kritischen Artikel über seine Oper mit dem Titel „Chaos und Musik“; von Stalin verfasst. Stalin wünscht eine harmonische Musik, an der sich die Werktätigen erfreuen. Er wird zu einem Verhör geladen und zu einer Verschwörung gegen Stalin befragt, an der auch einer seiner Förderer beteiligt sein soll und später Opfer des stalinistischen Terrors wird.

Unter Stalin wird es nur zwei Arten von Komponisten geben. die einen waren am Leben und hatten Angst, die anderen waren tot.3

Er wollte nie mit den Mächtigen zusammenarbeiten. Die drei Kapitel beginnen mit der Überschrift, Er wusste dies war die schlimmste Zeit, und in jedem Kapitel wird Schostakowitsch immer stärker Teil des Machtapparates, und er leidet darunter. Der Leser nimmt teil an den Gedanken und Selbstzweifeln des Protagonisten und an seiner Feigheit gegen das Regime zu opponieren.

Vor ganz kurzer Zeit noch hatte er die Unverwüstlichkeit der Jugend in sich gespürt. Mehr noch die Unkorrumpierbarkeit der Jugend.3

Das Schicksal will, dass wir im Alter das werden, was wir in der Jugend am meisten verachtet haben.2

Der Roman beschreibt, wie sich Schostakowitsch von den Mächtigen korrumpieren lässt. In den Jahren der stalinschen Säuberungen lebt er in ständiger Angst, ermordet zu werden. Dann wird er ein Repräsentant der UdSSR und lässt sich politisch vereinnahmen. Er erträgt einen demütigenden Privatunterricht im Marxismus-Leninismus. Schostakowitsch wird in der Sowjetunion und International ein anerkannter Künstler, der das Angebot erhält, Vorsitzender des sowjetischen Komponistenverbandes zu werden. Schostakowitsch wird ein Künstler mit Privilegien und guten Kontakten zur politischen Führung. Er unterschreibt Resolutionen, in denen die Dissidenten Solschenizyn und Sacharow verleumdet werden.
Dieser Roman beschreibt die Unterdrückung eines Künstlers und seine Reaktion. Künstler unter autoritären Regimen besitzen mehrere Wahlmöglichkeiten. Sich anpassen, um als Künstler „ungestört“ tätig zu sein. Ein Künstler kann das Land verlassen oder offen eine oppositionelle Haltung einnehmen. Im besten Falle führt dies „nur“ zu einem Gefängnisaufenthalt. Schostakowitschs Opposition gegen Stalin wäre der sichere Tod. Barnes verzichtet klugerweise darauf, Schostakowitschs Verhalten moralisch zu bewerten. Er zeigt, wie die Angst vor der Macht die Psyche eines Menschen beschädigt.
Barnes schreibt nicht über die Musik von Schostakowitsch. Deshalb meine Empfehlung: Die Musik von Schostakowitsch hören.

Schostakowitsch: 7. Sinfonie (»Leningrader«) ∙ hr-Sinfonieorchester ∙ Klaus Mäkelä

Julian Barnes. Der Lärm der Zeit. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 2.Auflage 2017

1) S.59
2) S.216
3) S.69
4) Unsere Panzer sind wertlos, wenn die Seelen, die sie lenken müssen, aus Ton sind. Deshalb sage ich: Die Produktion von Seelen ist wichtiger als die von Panzern … Und deshalb erhebe ich mein Glas auf euch, Schriftsteller, auf die Ingenieure der Seele.
Frank Westermann. Ingenieure der Seele. Ch.Links Verlag, Berlin. 2003. S.40

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