Rüdiger Esch. ELECTRI_CITY. Elektronische _Musik aus Düsseldorf
Einleitung
Der Autor Rüdiger Esch spielte als Bassist von 1989 bis 2011 in der Band Die Krupps. Das Buch erzählt die Geschichte der elektronischen Musik aus Düsseldorf von 1970 bis 1986 und zeigt Düsseldorf als Wiege der elektronischen Musik. Benannt ist das Buch nach dem Hit Electrocity der britischen Popband OMD (Orchestral Manoeuvres in the Dark)
Esch organisierte die Ausstellung Electri-city zur elektronischen Musik im Auftrag der Stadtwerke Düsseldorf. Hier wurde ihm klar, wie wenig über die Geschichte der elektronischen Musik aus Düsseldorf bekannt ist.
Deshalb führte Esch zwischen 2012 und 2014 Interviews mit den Pionieren der elektronischen Musik, entweder im persönlichen Gespräch, über das Telefon oder per E-Mail. Das Ergebnis ist eine Oralgeschichte der elektronischen Musik, bei der die Zeitzeugen ihre Sichtweise darstellen. Die Interviews sind so angeordnet, dass die Zeitzeugen ihre Aussagen gegenseitig kommentieren, dadurch erhält der Leser das Gefühl, Liveinterviews zu erleben. Esch lässt die Aussagen unkommentiert stehen.
Im Anhang findet der Leser eine kurze Biografie zu jedem Musiker und seinen Bandmitgliedschaften.
Die Soundbastler aus Düsseldorf
Düsseldorf, die Schickimicki Stadt. Mit Josef Beuys an der Kunstakademie und dem Schuhmann Institut war Düsseldorf auch die Stadt der Kunst und Künstler. Einige Pioniere der elektronischen Musik studierten an diesen Einrichtungen Kunst oder Musik. Beeinflusst wurde deren Musikgeschmack von der amerikanischen und britischen Musik, die u. a. der Soldatensender AFN spielte.
Ende der 60-er Jahre forderte die politische Situation auch von den Künstlern in der Musik etwas Neues zu schaffen. Es war eine Zeit des Aufbruchs.
Heutzutage wünschen sich Bands in irgendwelche Schubladen einzureihen, die es damals gar nicht gab. Wir haben erst Musik gemacht, dann wurden die Schubladen erfunden.1
Akustische Instrumente wurden elektronisch verfremdet. Um reine elektronische Musik zu spielen, bastelten die Musiker aus der Not heraus ihre eigenen elektronischen Instrumente. Um mit diesen Musikinstrumenten zu experimentieren, benötigte man keine musikalische Ausbildung. Mit der Trial and Error Methode betraten die Musiker akustisches Neuland. Die 1971 gegründete Band Neu!, demonstrierte bereits mit dem Bandnamen die Suche nach neuen musikalischen Wegen.
Quentin Tarantino verwendete später einen Ausschnitt aus dem Neu! Stück Super 16 für den Spielfilm Kill Bill.
In den 70-er Jahren waren die ersten kommerziellen Synthesizer vorhanden (Moog, Roland, Korg), die den Musikern neue Ausdrucksmöglichkeiten boten.
Doch für viele Musiker waren diese Synthesizer unerschwinglich. Florian Schneider und Rolf Hütter von Kraftwerk, kamen aus reichen Elternhäusern und konnte sich die teuersten Instrumente leisten.
Wenn man das auf der Bühne sah, wusste man sofort: >>Hoppla, rich kid>> Alle Moog Sachen, wie überhaupt die ganzen amerikanischen Sachen, waren total teuer.2
Kraftwerk. Connie Plank
Im ersten Teil steht die Gruppe Kraftwerk im Mittelpunkt der Interviews. In Kraftwerk spielten Musiker, die später wieder hervorragende Bands gründeten, NEU!, La Düsseldorf.
Die Bands brauchten allerdings einen Produzenten, der dieser neuen Musik aufgeschlossen gegenüber stand. Die neuen Soundbastler unterstützte, die Musik produzierte, damit sie auf eine LP gepresst und veröffentlicht werden konnte. Diese Person war der Musikproduzent Connie Plank (* 3. Mai 1940 ; † 5. Dezember 1987 in Köln). Über Connie Plank sprechen alle Interviewpartner mit großem Respekt. Connie Plank produzierte die LP Autobahn von Kraftwerk und die Musik vieler anderer Krautrockgruppen. Es bestanden Zusammenarbeiten mit Ultravox und Brian Eno.
Kraftwerk betonten auf ihrer Amerika Tournee, ihr „Deutschsein“, gepaart mit einer Portion Ironie. Schon der Albumtitel Autobahn klingt sehr deutsch. Die Anzüge, die sie bei Konzerten trugen, waren ein wichtiges Erkennungsmerkmal und verstärkten das roboterhafte ihrer Musik. Auch bei der Covergestaltung gingen Kraftwerk neue Wege.
Kraftwerk war ein Gesamtkunstwerk, die sich musikalisch und in der Darstellung radikal von anderen Bands unterschieden.
Doch schaffte diese Musik schnell den Sprung in den Mainstream. Das Stück Rückzug vom Debütalbum der Gruppe Kraftwerk wurde die Titelmusik vom ZDF Politmagazin Kennzeichen D und bereits 1971 hatte Kraftwerk ihren ersten Fernsehauftritt in der ZDF-Sendung Aspekte.
Elektronische Musik aus Deutschland in Großbritannien
Bisher wurde die deutsche Musikszene von der englischen und amerikanischen Popmusik dominiert. Mit der elektronischen Musik erfolgte eine Umkehr. Gerade in England wurde man auf die elektronische Musik aus Deutschland aufmerksam. Dies bestätigen Andy McCluskey und Paul Humphreys, Mitglieder der Band Orchestral Manoeuvres in the Dark (OMD); Chris Cross, Bassgitarrist der Band Ultrafox und Martin Ware, Gründungsmitglied der Band Human League. Brian Eno und David Bowie waren in Düsseldorf aus Interesse an dieser Musik, um vielleicht auch etwas „Industriespionage“ zu betreiben. Bei einem Konzert in Düsseldorf ließ Bowie in voller Lautstärke Kraftwerk vom Band spielen.
1997 hatte David Bowie einen Auftritt in der Fernsehsendung Wetten dass..? . In dieser Sendung erklärte Bowie, seine wichtigsten deutschen Einflüsse seien die Bands Kraftwerk, NEU! und Harmonia gewesen. Ein überraschter Thomas Gottschalk fragte das Publikum, ob die Gruppe NEU! bekannt ist. Ein Zuschauer meldete sich! Ein herrliches Aufeinandertreffen von Mainstream und Subkultur.
Ratinger Hof. DAF. Elektronik trifft Punk
Der Ratinger Hof war ein Treffpunkt der Düsseldorfer Künstler und Punks Ende der 70-er Jahre. Eine Szenekneipe, die Punkbands Auftrittsmöglichkeiten bot. Hier begann die zweite Generation elektronischer Musik aus Düsseldorf, beeinflusst vom Punk.
1980 spielte die Deutsch Amerikanischen Freundschaft (DAF) im Ratinger Hof ihr erstes Konzert. Die Mitglieder der Band lebten einige Zeit in England. Konflikte innerhalb der Band reduzierten die Anzahl der Bandmitglieder von fünf auf Gabi Delgado und Robert Görl. Beide hatten die anderen Mitglieder aus der Band gedrängt.
Die Musik von DAF war elektronischer Post-Punk. DAF wollte sich von den Strukturen der vertrauten Musik lösen, um eine neue Musik zu spielen, die man vorher noch nicht gehört hatte3. Eine Musik ohne Strophen und Refrain. Selbst die Punkmusik empfanden sie als zu konservativ. Zu dieser neuen Musik gehörte auch eine neue Ästhetik. Ein militärisches Auftreten, um straight und stark zu erscheinen4. Provozierende Titel wie Tanz den Mussolini. Der Kulturkritiker Georg Seeßlen schrieb ein Buch über den Faschismus in der Popkultur und übernahm aus dem Song Tanz den Mussolini für seinen Buchtitel die Textzeile; Tanz den Adolf Hitler.7
Diese Nazi-Ästhetik brachte Sympathien bei den rechtsradikalen Skinheads. Man kann DAF sicher keine Sympathie mit der Naziideologie vorwerfen. Und doch spielte DAF mit dieser Nazi Ästhetik. Auf einem Konzert verteilte das damalige Bandmitglied Chrislo Haas kleinformatige Ausgaben von Hitlers Mein Kampf, damit die Zuhörer nicht die Bühne stürmten.5
So wurde die elektronische Musik der 70-er Jahre zum Vorläufer des Synthiepop der 80-er Jahre.
Zusammenfassung
Das Buch ist ein wichtiges Dokument zur Entwicklung der elektronischen Musik. Zusätzlich versteht der Leser besser, wie eine neue LP entsteht. Wir Musikkonsumenten hören die fertige LP und/oder erleben die Band bei einem Livekonzert. Wir wissen wenig über die Arbeitsweise der Bands, die Produktion der LP im Studio, die Konflikte innerhalb einer Band und den Einfluss der Plattenfirmen. Genau diese Wissenslücke schließt das Buch.
Rüdiger Esch. Electri_City. Elektronische Musik aus Düsseldorf 1970 – 1986. Suhrkamp Verlag. 3.Auflage 2015
1.) S. 293
2.) S. 343f
3.) TAZ. 29.09.2017. Abgerufen am 04.02.2022. https://taz.de/Interview-mit-der-Elektro-Band-DAF/!5448206/
4.) TAZ. 05.01.2009. Abgerufen am 04.2.2022. https://taz.de/Montagsinterview-zum-Comeback-von-DAF/!5170185/
5.) Rüdiger Esch. Electri_City. Elektronische Musik aus Düsseldorf 1970 – 1986. Suhrkamp Verlag. 3. Auflage 2015. S. 243.
6.) ebenda, S.260
7.) Georg Seeßlen. Tanz den Adolf Hitler. Faschismus in der populären Kultur. Verlag: Edition Tiamat, 1994
Interviews mit den Zeitzeugen (eine Auswahl).
Wolfgang Flür 1973- 1986 Kraftwerk
Eberhard Kranemann 1971- 1972 Kraftwerk, 1975 NEU!
Bodo Staiger † 4. Dezember 2019; 1984 Rheingold
Hans Lampe 1975 NEU! (Schlagzeug) und 1976 – 1983 La Düsseldorf
Michael Rother 1971 Auftritt mit Kraftwerk im Beatclub,
1971 – 1975 NEU!
Hans Joachim Rodelius Cluster und Harmonia
Dieter Moebius † 20. Juli 2015 Cluster und Harmonia
Conrad Schnitzler † 4. August 2011 in Berlin Cluster
Gabi Delgado † 22. März 2020 in Portugal DAF
Robert Görl DAF
Interviewpartner von anderen Bands: Die Krupps, Propaganda, Liasons Dangereuses, Der Plan, Fehlfarben.
Die Ausstellung Electro. Von Kraftwerk bis Techno in Düsseldorf im Kunstpalast (17. Dezember 2021 bis zum 15. Mai 2022.)
Diese Ausstellung ist eine sehr gute Ergänzung zu dem Buch von Rüdiger Esch.
Die Ausstellung zeigt die zahlreichen Zusammenhänge zwischen Kunst und Technik und die wechselseitigen Beziehungen. Innovationen der elektronischen Instrumente veränderten die Arbeitsweise der Musiker.
Der erste Teil der Ausstellung heißt Maschinen und beginnt mit einer Zeitreise.
Der Besucher sieht altertümlich wirkende elektronische Klanginstrumente so groß wie Schränke. Bereits in den 1910-er Jahren experimentierte man mit elektronischen Klängen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Geräte weiterentwickelt. Instrumente, die nur einer kleinen Gruppe für Ton- und Klangexperimente zur Verfügung standen. Überwiegend experimentierten Ingenieure, Tontechniker und Musiker mit diesen Geräten in Tonstudios oder akustischen Labors. Auf den Fotos sieht der Besucher überwiegend seriöse Herrn in Anzug und Krawatte, die die Regler und Drehknöpfe der elektronischen Klangerzeuger bedienten.
Zu sehen sind in der Ausstellung die ersten kommerziellen Synthesizer (Moog). Mit der Entwicklung dieser trans-portablen Geräte verließ die elektronische Musik die Tonstudios und Labors und stand nicht mehr nur den Plattenfirmen zur Verfügung. Wegen der hohen Kosten waren diese am Anfang nur für eine kleine Gruppe erschwinglich2, und doch hatte sich etwas verändert.
Das neue an dieser Zeit war ja, dass einige der Produktionsmittel, die vorher immer Herrschaftsinstrumente der Plattenfirmen waren, nun bei Musikern selbst standen.6
Damit entstand die elektronische Musik als eigenständiger Teil der Popmusik.
Auch auf der Golden Record, die an Bord der Sonde Voyager ist, können Alien ein elektronisches Stück der Computermusikpionierin Laurie Spiegel hören.
In einem eigenen Raum erleben die Besucher eine musikalische 3-D-Show der Gruppe Kraftwerk. Mithilfe von 3-D-Brillen wird das Musikerlebnis verstärkt.
Die dritte Abteilung ist überschrieben mit Dancefloor. Diese Abteilung betrachtet die elektronische Musik als Unterhaltungs- und Tanzmusik. Die Clubszene und den dazugehörigen Dresscode. Der Besucher sieht Fotos von tanzenden jungen Menschen im Zustand der Trance und dem Gefühl der Ekstase. Zu sehen sind großformatige Fotos von Andreas Gursky. Die Love-Parade in Berlin und Techno-Partys als Massenveranstaltungen.
Die Pioniere der elektronischen Geräte in ihren seriösen Anzügen und Krawatten ahnten sicher nicht, dass sie mit ihren technischen Pionierleistungen die Grundlagen zu einer neuen, weltweiten Jugendkultur schufen.
In der Sektion Imaginäre Welten sieht der Besucher, wie diese Musikkultur die bildenden Künstler inspirierte.
Die Abteilung Mix & Remix zeigt die aktuelle Arbeitsweise von Musikern. Im traditionellen Sinne sind Djs keine Musiker. Durch das Mischen von Sound, Musikteilen und einem veränderten Tempo entsteht ein neuer tanzbare Sound. Zu sehen sind Fotos von DJs und Musikern, die ihre eigene Wohnung in ein Homestudio verwandeln. Computer, Software, Keyboard, eine umfangreiche Plattensammlung und jeder kann Musik komponieren und im Internet veröffentlichen.
Die letzte Abteilung widmet sich der KI (Künstliche Intelligenz) in der Musik.
Katalog zur Ausstellung. Electro. Von Kraftwerk bis Techno