Jens Balzer. Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache
Wann, tuu, zriee, forr, lässt go.1
Einleitung
Jens Balzer wurde 1969 geboren und schreibt für Die Zeit, den Rolling Stone und verfasst Beiträge für den Deutschlandfunk. Er veröffentlichte mehrere Bücher über Popmusik. In diesem Sachbuch behandelt Balzer die Sprache in der deutschen Popmusik, und wie der Wandel in der Gesellschaft die Sprache in der deutschen Popmusik veränderte und Popkultur die Gesellschaft veränderte. Balzer erzählt chronologisch die Geschichte der deutschen Popmusik.
Deutsche oder nichtdeutsche Texte das war (ist?) die Frage
Vor dieser schwierigen Entscheidung standen deutsche Popmusiker nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder. Im deutschen Schlager nach dem Zweiten Weltkrieg wurde selbstverständlich nur deutsch gesungen. Nach dem verlorenen Krieg träumten die Menschen von Reisen in fremde und exotische Länder. Eine Flucht aus dem grauen Alltag und dem Wunsch nach einer heilen Welt, um die Schuld an die Ermordung der europäischen Juden zu vergessen.
Erfolgreich waren Schlager über fremde Länder und die eigene Heimat. Die jüngste deutsche Geschichte spielte keine Rolle. Diese Sehnsucht nach fremden Ländern bediente der deutsche Schlager. Seit Goethes Italienischer Reise wurde für die Deutschen Italien zum „Sehnsuchtsland Nr. 1“. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Rudi Schuricke mit der Schnulze Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, den ersten Nachkriegshit landete1.
Die Sehnsucht nach fremden Ländern bedienten auch Künstler mit einem fremdländischen Künstlernamen oder Sänger, die mit einem fremdländischen Akzent sangen. Manchmal wurden die Liedtexte auch mit nichtdeutschen Wörtern angereichert. Somit gab man sich weltoffen und wünschte, als Weltbürger wahrgenommen zu werden, um wieder als „normaler Staat“ in die Weltgemeinschaft aufgenommen zu werden.
Popkultur ein Reeducation Programm
Sehr schnell erfolgte die politische Neuorientierung nach Westen und in der Popmusik zum englischsprachigen Teil der Welt.
Ein Großteil des deutschen Bürgertums schaute schon immer herablassend auf die amerikanische Kultur und fürchtete sich vor einer „Amerikanisierung“ der „Kulturnation Deutschland“. Während des Nationalsozialismus war Jazzmusik offiziell verboten und amerikanische Kultur galt als minderwertig. Mit dieser Sozialisation während des Nationalsozialismus reagierten die Menschen in den 60er-Jahren auf die englischsprachige Popmusik mit rassistischen Kommentaren: Negermusik, Hottentottenmusik und das englische Gejaule.6
Widerstand gegen die englische Popmusik kam auch von Teilen der antiamerikanischen „Linken“. Für sie war es die Musik des „amerikanischen Kulturimperialismus“, der die Massen von der Revolution abhält. Eine Überzeugung, die auch die Staatsführung der DDR teilte.7
Deutsche Bands sangen in einem „Fantasieenglisch“ (Erst ab Mitte der 60er-Jahre wurde Englisch zu einem Schulfach), um die englischen Vorbilder zu imitieren, und gleichzeitig rebellierte man gegen die Eltern und Gesellschaft.
man eignet sich andere Sprachen an, um die eigene Fremdheit in der Welt zu formulieren
Im Pop soll das Fremde zu etwas Eigenem werden.4
Für diese Bands und Sänger war Deutsch die
Sprache der Spießer und zweitens als Sprache der Väter- und Müttergeneration, die in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt gewesen war.5
Andererseits sangen englisch sprechende Künstler, Lieder auf Deutsch (The Beatles und Elvis Presley), oder es wurden englische Songs mit deutschen Texten gecovert.3
Für Frank Apunkt Schneider war die englischsprachige Popkultur ein wichtiger Teil des Reeducation Programm („Umerziehungsprogramm“) der Amerikaner. Mit der Popmusik warfen die Jugendlichen die alten reaktionären Werte der Volksgemeinschaft über Bord. Popkultur ein Beitrag zur Entnazifizierung Deutschlands.
Popmusik als Transportmittel für politische Botschaften und persönliche Befindlichkeiten
Mit der 68er Bewegung und der Friedensbewegung in den 70er und 80-er Jahren bekam die deutsche Sprache in der Popmusik einen neuen Stellenwert. Die Texte bestanden aus Slogan, um die Gemeinschaftsbildung zu fördern und die Zuhörer auf bestimmte politische Ziele einzuschwören. Die Texte dieser Popsongs sollten dem Zuhörer das Gefühl geben, er stehe auf der politisch „richtigen Seite“.
Diese Überzeugung auf der politisch „richtigen Seite“ zu stehen, stellten die Bands der „Hamburger Schule“ infrage. Man sah sich als Außenseiter und sang über Einsamkeit und Entfremdung. Man stand vor der Entscheidung, ob man sich zu einer Gesellschaft oder Gemeinschaft zugehörig fühlen sollte, der man grundsätzlich kritisch gegenüberstand.
Tocotronic singen ironisch über diesen Zwiespalt „dazu gehören zu wollen“ oder „nicht dazu gehören zu wollen“ in ihrem Song Ich will Teil einer Jugendbewegung sein.
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein. Ich
möchte Teil einer Jugendbewegung sein.
Ich möcht mich auf euch verlassen können
Ich möcht mich auf euch verlassen können
Und jede unserer Handbewegungen
Hat einen besonderen Sinn
Weil wir eine Bewegung sind12
Die Popmusik der Migranten
Mitte der 60er-Jahre gründete Yilmaz Asöcal das Plattenlabel Türküola mit Musik für die türkischen Arbeitsemigranten. Nun erschien in Deutschland Popmusik in einer neuen Sprache. Der Marketingslogan des Plattenlabels hieß
Musik als Heilmittel gegen Heimweh.8
Noch sahen sich die türkischen Arbeitsemigranten als Gastarbeiter. Eine Sichtweise auch der deutschen Bevölkerung. Arbeiter, die nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland in die Türkei zurückkehren.
Dieses türkische Plattenlabel erzielte hohe Verkaufszahlen in Deutschland. Die deutsche Öffentlichkeit nahm diese Musik nicht zur Kenntnis. In den Hitparaden, dem Rundfunk und Fernsehen waren keine türkischen Sänger zu hören. Ein Hinweis auf die strikte Trennung zwischen den türkischen und deutschen Lebenswelten in den 70er-Jahren.
Generell ist keine Popmusik, keine Kultur ohne das Spiel von Aneignung, Neu- und Umdeutung denkbar – also all dessen, was fremd und anders erscheint und deswegen reizvoll ist.9
Die popkulturelle Trennung zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den Migranten endete mit dem Rap und dem Hip-Hop. Wie schon in 60er-Jahren, als die deutschen Beatbands englisch sangen, so rappten in Deutschland die Künstler zunächst in Englisch. Rap Musik war die Ausdrucksform der migrantischen Jugendlichen und die sangen wie die türkischen Popsänger in 60er- und 70er-Jahren nicht auf Türkisch, sondern auf Deutsch. Obwohl die migrantischen Jugendlichen einen deutschen Pass besaßen, erlebten sie den täglichen Alltagsrassismus und die Fremdheit im eigenen Land.
Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land
Kein Ausländer und doch ein Fremder
Kein, kein Fremder10
Für diese Jugendlichen wurde die Popmusik zu einer „Ersatzheimat“. Die Migranten wurden mit ihrer Musik und ihren Themen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zum ersten Mal „sichtbar“ und „hörbar“.
Die Rapper mischten ihre Texte mit anderen Soziolekten und beeinflussten zumindest die Jugendsprache. Der Rapper Ekrem Bora alias Eko Fresh gab in seinem Song Straßendeutsch/Türkenslang ein Unterricht in Türkisch für Anfänger
>Hallo, ich will Tea< heisst
Selam, bring mir Cay
Diesen Slang sprechen alle in der Stadt
>Ne is, moruk< steht für Alter, was geht?11
Er singt über die doppelte Diskriminierung
Für Deutsche sind wir Türken
Für Türken sind wir Deutsche
Deshalb sag‘ ich euch, was die Wörter so bedeuten
Wir werden oft als Asoziale betitelt
Haben unsere eigene Sprache entwickelt
Nenn es Straßendeutsch oder Türkenslang
Ich mach‘ mehr für die Völkerverständigung als ihr.11
Rapper, die „Randgruppen“ angehörten, übernahmen wiederum Wörter aus anderen „Randgruppen“. (Sinti, Romanes, Kurden)14. Das kurdische Wort Babo (Vater), im Hip-Hop als Synonym für Boss, wurde durch den Erfolg der Gruppe Haftbefehl zum Jugendwort 2013 gewählt.
Der Rap und Hip-Hop wurde ab den 2000er-Jahren zum bevorzugten Musikgenre der migrantischen Jugendlichen. Leider wurden nicht nur progressive Einstellungen vermittelt. Mit dem Gangster Rap dominierten Frauen feindliche Texte, antisemitische Aussagen und Verschwörungstheorien. Zunehmende Diversität kann auch zu einer zunehmenden Diversität an Intoleranz führen.
Zusammenfassung
Auf knapp 210 Seiten können die einzelnen Themenbereiche selbstverständlich nicht bis ins Detail besprochen werden. So entsteht eine kompakte und unterhaltsame Zusammenfassung der Geschichte der deutschen Popmusik nach dem 2. Weltkrieg. Balzer dokumentiert bei vielen besprochenen Songs Textauszüge. Das macht den Leser neugierig sich diese Musikstücke anzuhören. Sehr häufig lernt der Leser neue Songs kennen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, das Buch im Deutschunterricht zum Thema Sprachanalyse einzusetzen.
Jens Balzer. Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache. Dudenverlag Berlin.
1) ebd. S.11
2) ebd. S.23
3) Die bizarrste Coverversionen ist der Song Paranoid der Band Black Sabbath, durch das Schlagerpaar Cindy und Bert, mit dem deutschen Titel Der Hund von Baskerville. Der Titel ist ein Sherlock Holmes Roman von Arthur Conan Doyle.
Konkret 8/22. Frank Apunkt Schneider. Mit Musik geht alles besser. Cindy & Bert. Der Hund von Baskerville (1971). S.61
4) Jens Balzer. Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache. Dudenverlag Berlin. S. 12
5) ebd. S. 13
6) ebd. S. 58
7) Zur Geschichte der Popmusik in der DDR: Bodo Mrozek. Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte. Suhrkamp Taschenbuch 2237). Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
8) Jens Balzer. Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache. Dudenverlag Berlin. S.109 ff
9) ebd. S. 206
10) ebd. S.173
11) ebd. S.178
12) Musikguru. Abgerufen am 29.August 2022
14) Allgood.Sinti im Rap:Die Entdeckung der Chabo-Sprache (1/2). 15. April 2019 Philipp Killmann https://allgood.de/features/reportagen/sinti-im-rap-die-entdeckung-der-chabo-sprache-12/