Swetlana Alexijewitsch. Secondhand-Zeit.
Der Mensch! Das ist groß! Das klingt… stolz! Der Mensch! Achten muß man den Menschen!1
die Menscheit mit eiserner Hand ins Glück zwingen2
Einleitung
Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 in der Ukraine geboren. Aufgewachsen ist sie in Belarus, wo sie als Reporterin arbeitete. Da sie nicht über ausreichende Kenntnisse der belarussischen Sprache verfügt, schreibt sie ihre Bücher in russischer Sprache.
Sie erhielt zahlreiche Literaturpreise. Für das Buch Secondhand- Zeit erhielt sie 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und für ihr Gesamtwerk 2015 den Nobelpreis für Literatur.
Swetlana Alexijewitsch versucht den „Homo sovieticus“ zu verstehen. Menschen, die den sowjetischen Sozialismus oder seinen Zusammenbruch erlebten. Oder erst nach dem Ende des Sozialismus geboren wurden und noch die Relikte des Sozialismus im Alltag erleben.
In der Regel studieren Historiker Dokumente in Archiven, um die Entscheidungen und das Verhalten von Menschen zu verstehen. Alexijewitsch geht einen anderen Weg und wählt eine andere Methode der Geschichtsschreibung. Sie sammelte weniger die Fakten einer untergegangenen Zeit, sondern dokumentiert die Emotionen der Menschen. Sie führte Interviews mit Menschen aus unterschiedlichen Generationen und sozialen Schichten. Sie hörte sich die Lebensgeschichten der Menschen an und hält die Emotionen, Gedanken und Motive fest. So entsteht eine Sozialreportage über das Leben der Menschen in Russland.
Für Alexijewitsch ist Russland ohne Zukunft. Zukunft heißt für sie, mit neuen Ideen mehr Glück für die Menschen zu schaffen. Stattdessen werden in Russland veraltete Ideen wieder modern, und es entsteht eine Secondhand-Zeit und ein Secondhand-Leben. So wie minderwertige, alte und nicht mehr benötigte Kleidung auf dem Trödelmarkt verkauft wird, so „kaufen“ Menschen Populisten alte Werte ab: Der Traum von einem russischen Imperium, kombiniert mit ultranationalistischen Ideen.
Auch die Übernahme des Kapitalismus ist ein secondhand Kauf. Die Übernahme eines gebrauchten Wirtschaftssystem mit einem enormen Ressourcenverbrauch und dem Profit als höchsten Wert.
Na ja – geboren in der UdSSR – das ist eine Diagnose…3
Alexijewitsch erzählt, wie rasante gesellschaftliche Umbrüche die Lebensgeschichten von Menschen verändern. Einige Menschen fühlen sich als Gewinner, andere als Verlierer oder sind enttäuscht.
Zu den Verlierern und Enttäuschten gehört in Russland die Intelligenzija: Lehrer, Ingenieure, Akademiker, Künstler und Angehörige der Armee. Diese Menschen fühlten sich als eigenständige soziale Gruppe, die sich weder mit der Staatsmacht noch mit dem „einfachen Volk“ identifizierten und sich einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht wünschten. Aus der selbst wahrgenommenen Sonderstellung erwuchs ein starkes Selbstbewusstsein.
Der Wohlstand dieser Gruppe wuchs nicht nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Auch spürte diese Schicht einen Ansehens- und Bedeutungsverlust in der Gesellschaft.
Diese Gruppe gehörte zu den Unterstützern der Perestroika und demonstrierte gegen die Putschisten im August 1991. Gerade diese unübersichtliche Phase verbanden einige Interviewte mit einem Glücksgefühl, weil sie sich für die Ideale einer neuen Gesellschaft begeisterten. Wenn auch die Hoffnungen enttäuscht wurden.
Aber ich bin glücklich, dass ich diese Zeit erlebt habe. Der Kommunismus ist gestürzt! Es ist vorbei, er wird nicht mehr zurückkehren. Wir leben jetzt in einer anderen Welt und betrachten die Welt mit anderen Augen. Den freien Atem jener Tage werde ich nie vergessen…4
Sie verfolgten voller Spannung die Nachrichten im Fernsehen und Radio. Die Menschen trafen sich auf Kundgebungen, und so entstand ein starkes Gefühl von Gemeinschaft und Hoffnung.
Das Reich der Freiheit schien unmittelbar vor der Tür zu stehen.5
Alexijewitsch sprach mit Menschen, die den Verlust des Sozialismus aus verschiedenen Motiven nachtrauern.
Eine Funktionärin der KPDSU kritisiert zwar die kommunistischen Führungseliten und die totale Überwachung der Menschen. Auch nach dem Scheitern des sowjetischen Kommunismus glaubt sie an die Idee des Sozialismus. Sie will nicht akzeptieren, dass sie ihr ganzes Leben an eine „falsche Ideologie“ glaubte und damit ihr Leben sinnlos erscheint.
Der Sozialismus, das sind nicht nur Lager, Spitzeleien und Eiserner Vorhang, das ist auch eine gerechte Welt:mit allen Teilen, die Schwachen schützen, Mitgefühl haben, nicht alles an sich raffen.6
Die „einfachen Menschen“ waren die „Helden“ der sozialistischen Gesellschaft. In der Konsumgesellschaft sind Banker, Geschäftsleute und Models die neuen „Helden“.
Bei einer Frau weckt das Interview nostalgische Erinnerungen. Sie erinnerte sich an die kommunistischen Feiertage. Sie besuchte als Kind mit ihrem Vater die Militärparaden auf dem Roten Platz. Sie erinnert sich an riesige Gemälde von Lenin und Stalin, schöne Musik, Marschkolonnen und die Luftballons. Als Erwachsene erkennt sie ihr geliebtes Moskau nicht wieder. Eine Stadt von Bettlern und Händlern, die sowjetische Orden an Ausländer verkaufen.
Ich komme nicht mehr mit…Ich gehöre zu denen, die nicht mitkommen…7
Für diese Menschen ist das neue Leben unübersichtlicher. Sie haben das Gefühl, sie führten ein falsches Leben. Die eigene Lebensleistung wird nicht gewürdigt. Sie fühlen sich im neuen Leben nicht wohl. Sie empfinden sich als überflüssig und wirken auf die Angepassten lächerlich. Es ist die Trauer über den Verlust der kommunistischen Gesellschaft, die sie als Heimat empfanden. Diesen Verlust kann auch der bescheidene Konsum nicht ersetzen.
…sie wollen hören, dass ihr Leben groß war und nicht vergebens und dass sie an etwas geglaubt haben, woran zu glauben sich lohnt. Und was bekommen sie zu hören? Sie hören von allen Seiten, dass ihr Leben absolute Scheisse war, …8
Der Zusammenbruch der Sowjetunion war der Untergang einer Großmacht. Die Menschen waren stolz auf ihr Land: Gagarin der erste Mensch im Weltraum und der Sieg über Nazi-Deutschland. Während des Umbruchs verschwand dieser Stolz und gleichzeitig verschwand auch die Begeisterung für die Utopie einer anderen Gesellschaft.
Häufiger fällt in den Gesprächen der Name Stalin. Auch Menschen, deren Angehörige während der Stalin-Ära ermordet wurden, verehren Stalin wegen des militärischen Sieges über Nazi-Deutschland. Und Stalin steht für eine glorreiche sowjetische Zeit.
Die Menschen sehnen sich nach den Umstürzen (Auflösung der UdSSR, Putsch, Terroranschlägen in Moskau) nach persönlicher und politischer Stabilität. Und diese Sehnsucht bedient Putin.
Doch einzelne Menschen leisten Widerstand gegen das „System Putin“. Eine Gesprächspartnerin schildert sehr anschaulich die Brutalität der Miliz gegenüber Demonstranten. Ein Bericht, der die tägliche Unterdrückung in einem autoritären Staat sichtbar macht.
Die Erinnerungen an Kriege sind für viele Menschen in Russland im täglichen Leben sehr präsent. Kein Land hat mehr Tote im Zweiten Weltkrieg zu beklagen, als die Sowjetunion: mehr als 20 Millionen Tote.
Deswegen ist es nicht zu verstehen, warum die Mehrheit der Menschen in Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützt.
Zusammenfassung
Swetlana Alexijewitsch beschreibt das Verhalten des „Homo sovieticus“ in einer Gesellschaft, in der die Krise zum Dauerzustand wurde. Viele Verhaltensmuster des „Homo sovieticus“ scheinen allgemeine menschliche Verhaltensweisen sein. Viele Menschen in Russland unterstützen das autokratische System Putin, weil er ihnen nach den chaotischen 90er-Jahren eine politische und wirtschaftliche Stabilität brachte. Die weltweiten Krisen beeinflußten das Leben der Menschen in den westlichen Demokratien bisher nur geringfügig. Seit der Corona Pandemie und dem Ukrainekrieg sehen auch die Menschen in den westlichen Demokratien die politischen und ihre persönlichen Verhältnisse als bedroht an. Wie würden die Menschen in den westlichen Demokratien politisch auf eine lang anhaltende Krise reagieren?
Durch die vielen Äußerungen der Interviewten verliert der Leser leicht den Überblick, weil er nicht gleich das historische Wissen parat hat, um die Aussagen richtig einzuordnen. Deswegen verlangt dieses Buch vom Leser hohe Konzentration. Doch wer durchhält, wird das heutige Russland besser verstehen.
.
Popmusik:The Beatles – Back in the U.S.S.R
Der Song Back in the U.S.S.R ist der erste Song auf dem 1968 erschienenen Doppelalbum The Beatles, wegen des weißen Covers auch als Weißes Album bekannt.
Der Song ahmt das Stück des Rock’n Roll Sänger Chuck Berry Back in the USA nach und macht sich lustig über die Kampagne des britischen Premierministers Harold Wilson I’m Backing Britain (eine „Buy British“-Kampagne).
Geschrieben wurde das Lied von Paul McCartney während eines Aufenthalts der Beatles in Indien. Zu diesem Zeitpunkt war auch Mike Love von den Beach Boys anwesend und gab McCartney Tipps zum Text. So wie die Beach Boys über die California Girls singen, sollten die Beatles über die Frauen in Russland, der Ukraine und Georgien singen.9,11
Well the Ukraine girls really knock me out9
ukrainische Mädchen hauen mich wirklich vom Hocker10
Zu dem Song wurden dann noch Harmonien im Beach Boys-Stil hinzugefügt.11
Die rechtsradikale John Birch Society warf den Beatles kommunistische Propaganda vor. Auf dem Album befindet sich zusätzlich noch ein Song mit dem Titel Revolution. Das ist natürlich Blödsinn. Während der Hysterie des Kalten Krieges führte bereits ein freundlicher Song über die Menschen in der Sowjetunion zu einem Skandal. Der Song Back in the USSR ist eine Satire. Es ist ein Lied über einen Russen, der sich freut, nach Hause zu kommen. Er kann es kaum erwarten, nach Georgien in die Berge zurückzukehren. Deshalb auch die Zeile Georgia on My Mind (Eine Anspielung auf Georgien mit dem Unterschied Georgia ist ein Südstaat der USA und Georgien liegt im Kaukasus). Georgia on My Mind ist ein Song vom Komponisten Hoagland Howard Carmichael. Eine bekannte Coverversion stammte von Ray Charles.
Der Song der Beatles war in der UdSSR sehr erfolgreich. Westliche Musik war während des Kalten Krieges in der Sowjetunion verboten. Die Beatles LPs wurden in die Sowjetunion geschmuggelt. 2003 spielte Paul McCartney auf dem Roten Platz auch diesen Song und traf Vladimir Putin, der sich als Beatles Fan outete.
Die Beatles nahmen den Song ohne Ringo Starr auf. Vor der Aufnahme verließ Ringo Starr die Band, weil er sich künstlerisch nicht in Top-Form fühlte, sich in der Band als Außenseiter sah und McCartney sein Schlagzeugspiel kritisierte.11,12 Ein Hinweis auf Spannungen in der Band. Deshalb spielte Paul McCartney das Schlagzeug.
Das Geräusch am Anfang des Songs ist ein startendes Flugzeug in London Heathrow.
1) Maxim Gorki. Dramen. Nachtasyl. Winkler Verlag München. Winkler Dünndruckausgabe. Aus dem Russischen übersetzt von Werner Creutziger, Günter Jäniche und Georg Schwarz. S. 185
Swetlana Alexijewitsch. Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Suhrkamp Taschenbuch 4572. 2. Auflage 2015. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
2) S. 567, Anmerkung Nr. 8
3) ebenda S. 392
4) ebenda S. 28
5) ebenda S. 73
6) S. 60
7) S. 112
8) S. 314 f
9) Booklet zu der CD The Beatles
10) Russland Beyond. 20. November 2018. Tommy O’Callaghan. Abgerufen am 25. März 2022.
11) The Beatles Bible. Back In The USSR. Abgerufen am 23. März 2022
12) The Beatles Bible. Ringo Starr quits The Beatles. Abgerufen am 23. März 2022