Tobi Müller. Play Pause Repeat
Einleitung
Beim Aufräumen fielen mir verschieden Aufnahme- und Abspielgeräte in die Hände: ein Kassettenrekorder mit der dazugehörigen Kassette, ein MP3 Gerät, ein mobiler CD-Player. Natürlich besitze ich auch LPs und CDs und höre Musik auf meinem Tablet. Über diese Medien und andere Geräte schreibt Tobi Müller in Play Pause Repeat.
Tobi Müller, geboren 1970, ist ein Schweizer Kulturjournalist und wuchs in der Nähe von Olten (Schweiz) auf. Er lebt heute in Berlin und schreibt u. a. für Zeit Online und für Deutschlandfunk Kultur.
Zuhörer und Produzent
Der Kassettenrekorder war ein wichtiger Schritt, die Trennung zwischen Produzenten und Konsumenten aufzuheben. Mit dem Kassettenrekorder konnte die eigene Stimme und Musik aufgenommen werden. Unbekannte Bands nutzten die Kassette im analogen Zeitalter als Demoband für Schallplattenfirmen.
Mein Bruder und ich interviewten uns spielerisch mit einem Kassettenrekorder und dem dazugehörigen Mikrofon, um unsere Stimmen zu hören und gleichzeitig eine andere Rolle anzunehmen. Das Hören unserer eigenen Stimme gab uns das Gefühl von Bedeutung, und wir waren gleichzeitig erschrocken über den Klang der eigenen Stimme.
Jede Aufnahme befriedigt den narzisstischen Wunsch, sein Ich verdoppelt und somit als wirkmächtig zu erfahren. Gleichzeitig löst das Erlebnis der vom Körper abgespaltenen Stimme einen Schock der Selbstentfremdung aus. Bin das noch ich?1
Mit der Musikkassette konnten „analoge Playlist“ erstellt werden. Entweder wurden LPs überspielt und/oder Musik wurde aus dem Radio aufgenommen.
Zu guter Letzt erweiterte die Kassette unseren beschränkten nationalen Horizont. Sie diente zum Erlernen von Fremdsprachen und damit als Vorbereitung für das Reisen in fremde Länder.
Den veränderten Klang durch den Kassettenrekorder nutzten die Rolling Stones künstlerisch für ihren Song Street Fighting Man. Der Gitarrensound wurde auf einem billigen Kassettenrekorder aufgenommen. So entsteht der typisch scheppernde Sound.
Street Fighting Man ist der politischste Song der Rolling Stones und eine Reaktion auf die Demonstrationen von 1968. Mick Jagger singt zwar
Hey! Think the time is right for a palace revolution2
Der Refrain beschreibt die eigene Machtlosigkeit und das scheitern der Revolution
But what can a poor boy do
Except to sing for a rock ’n‘ roll band
′Cause in sleepy London town
There′s just no place for a street fighting man, no2
1965 traten die Beatles im Shea Baseball Stadium in New York auf. Ein denkwürdiges Konzert. Zum ersten Mal spielten die Beatles vor 55000 Fans in einem Stadium. Das Kreischen der Fans übertönte die Musik, wegen der viel zu schwachen Verstärkeranlage. Deshalb musste in den Filmaufnahmen die Musik nachbearbeitet werden. Erst mit der Entwicklung von leistungsstärkeren Equipments entstand eine neue Form des gemeinsamen Hörens von Popmusik: gigantische Open-Air-Konzerte.
Innerlichkeit und Inszenierung
Nach den lauten politischen 60er Jahren, folgten Jahre einer neuen Innerlichkeit. In seinem Gedicht Aufbruch in die siebziger Jahre spottet Hans Magnus Enzensberger über die 68er
Die Gegenkultur
baumelt an ihren Kopfhörern.
Bei Bodennebel
fällt sogar
die sexuelle Befreiung aus.3
Das Musikgerät dieser neuen Innerlichkeit war der Kopfhörer. Isoliert in seinen eigenen vier Wänden zwingt der Kopfhörer zu einem konzentrierten zuhören. Für diese neue Innerlichkeit gab es die passende Musik. Tobi Müller nennt als Beispiel Keith Jarretts Köln Konzert. Wahrscheinlich ist diese CD in vielen linksliberalen und alternativen Haushalten vorhanden.(Ich besitze die LP! ).
Zu dieser neuen Innerlichkeit entstanden Gegenbewegungen: Punkmusik und die Diskowelle.6
Musikalisch trennen beide Stile Welten und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Diese Musik hört man nicht isoliert in seiner Wohnung, sondern in öffentlichen Räumen, in der Disko oder in Szeneclubs. Eine Musik, die man nicht im Sitzen hört, sondern zu der man tanzt. Zum Tanzen gehörte die persönliche Inszenierung mit der entsprechenden Szenekleidung. Diese Selbstinszenierung in den 70er Jahren nimmt die spätere Darstellung in den sozialen Medien vorweg. Zum ersten Mal standen nicht nur die Popbands im Zentrum der Berichterstattung, sondern die Fans.
Mit der Punkmusik entstand eine neue Kreativitätsszene, die Kreativität zur Pflichtaufgabe erklärte. Hier finden sich für Tobi Müller die ersten Ansätze der neoliberalen Selbstoptimierung.
Walkman – Beweg dich!
Im Walkman steckt bereits die Aufforderung zum Gehen, und ist der Beginn der „mobilen Kopfhörerkultur“. Der Walkman wird zu einem Schutzschild vor den Zumutungen der Welt. Der Hörer zieht sich in seine eigene Welt zurück und gleichzeitig bewegt er sich im öffentlichen Raum.7 Mit dem Walkman wird die Stadt zur Kulisse eines Films. Zu dieser Art Musik zu hören, passte der Synthie-Pop und „Britpop“ der 80er Jahre.
Musik TV
In den 80er Jahren erschien die nächste popkulturelle Revolution. MTV sendete Musikvideos in Dauerschleife und begann am 1. August 1981 sein Programm mit dem Musikvideo Video killed the Radio Star von der Band The Buggles. Natürlich war MTV keine Konkurrenz für Musikprogramme im Radio. Aus eigener Anschauung kann ich nur sagen, war das Angebot an Popsendungen im Radio überschaubar. Heute sind Musikvideos etwas Alltägliches. Auf YouTube ist heute fast jedes gewünschte Musikvideo zusehen.
Mit der Einführung der CD in den 80er Jahren und mit Unterstützung von MTV erzielten die Musikkonzerne noch einmal riesige Gewinne. Mit der CD begann das digitale Zeitalter der Popmusik.
Techno
Techno war nicht nur ein neues Genre der Popmusik, sondern führte zu einer neuen Produktionsform von Musik. Durch den Einsatz von erschwinglichen Synthesizern, Schlagzeugcomputern und dem Einsatz von Samples schufen nicht mehr nur die großen Studios Hits. Auf einem Laptop mit einer erschwinglichen Musiksoftware konnte der Hit in der Küche gemixt werden.
In der Arbeitswelt erschienen Computer als Bedrohung. In der Musikszene wurden sie zu einem Werkzeug, um die eigene Kreativität zu verwirklichen und ein Mittel der Befreiung.
Für die Schwarzen Technoproduzent:innen aus Detroit aber bedeutet Technologie Befreiung.4
Die digitale Technik hebt endgültig die Trennung zwischen Produzenten und Konsumenten auf.
So wie in den 70er Jahren die Fans der Punkmusik und der Discomusik in das Zentrum der Berichterstattung traten, gewannen jetzt die Location der Technomusik an Bedeutung. Es war nicht wichtig, wer das Technostück schrieb oder welcher DJ es auflegte. Das Musikstück erhält erst seine Bedeutung durch das gemeinsame Hören und Tanzen in einer bestimmten Location. Die Location wird zum „Star“.
MP3
Das komprimierte MP3 Format war die Voraussetzung für die Streaming-Dienste und steigerte die Diversität in der Popmusik. Auf den Streamingdiensten kann jeder seine persönliche Lieblingsmusik hören. Mir bieten Streamingdienste und vor allem auch YouTube die Möglichkeit, spannende alte und neue Musik zu entdecken. Weil jeder etwas anderes hört, gibt es für Tobi Müller wenig Verbindendes zwischen den vielen Musikhörern. Ich sehe das weniger kritisch. Musikfans treffen sich auf Popkonzerten oder tauschen auf Internetportalen ihre Meinungen zur Popmusik aus.
Streamingdienste verstehen sich eher als Tech-Unternehmen und weniger als Musikportale. Spotify ist eine riesige Datensammelmaschine, die ihre Daten den Künstlern zur Verfügung stellt.
Früher wollten die Fans alles über den Künstler:innen wissen,
heute die Künstler:innen alles über die Fans.5
Aus diesen Daten stellt Spotify für die Nutzer Musiklisten zusammen, um die Nutzer länger auf der Plattform zu halten.
Hier erhält Musik eine Funktion. Die Musiklisten werden für bestimmte Stimmungen der Zuhörer erstellt, oder sollen sportliche Aktivitäten unterstützen.
Auf den Streaming-Plattformen ist die alte Musik, neben der aktuellen Musik nur ein Klick entfernt. Deswegen erscheint die gesamte Popmusik der letzten Jahre als eine riesige Retrowelle. Damit steht Pop nicht mehr für Fortschritt und Veränderung. Fortschritt und Veränderung, den auch die Geräte der Popmusik repräsentieren.
Tobi Müller kritisiert den ungerechten Verteilungsschlüssel der Einnahmen und Streamingdienste erschweren die Karriere junger Künstler.
Zuletzt wagt er eine Prognose über die Zukunft der Popmusik. Der Klimawandel und die Forderungen nach Nachhaltigkeit führen vermehrt zu kleineren Festivals auf lokaler Ebene. Vielleicht entsteht hier neuer Pop.
Zusammenfassung
Dies ist ein Buch über Geschichte der Aufnahmegeräte und Abspielgeräte in der Popmusik. Im Mittelpunkt stehen nicht die Bands und Stars der Rockmusik, sondern die Technik der Popmusik. Einige Geräte wurden zuerst militärisch genutzt, z. B. der Kopfhörer. (Der Kopfhörer half den Nazis Bomben über britische Städte zielgenau abzuwerfen).
Die Technik in der Popmusik sind keine kalten Maschinen. Jedes neues Gerät steigerte die ästhetischen Ausdrucksformen und gab dem Künstler die Chance, mit einem neuen Sound zu experimentieren.
Auf der anderen Seite ist der Hörer. Die Beziehung zwischen Musik und dem Abspielgerät wirken auf unserem Körper und Psyche und dieser Vorgang wird zu einem Erlebnis.
Jede neue Technologie der Vergangenheit, die wir vielleicht heute mitleidig belächeln, war in ihrer Zeit eine technische und künstlerische Revolution.
Zur Popmusik gehören die Aufnahme und Abspielgeräte, die neue Sounds kreieren. Die Fans, die mit ihren Outfits ihre Zugehörigkeit zu einer Musikrichtung dokumentieren. Natürlich gehören dazu auch die Location, an denen Popmusik gehört wird. Popmusik ist häufig eine Reaktion auf das aktuelle soziale Geschehen oder nimmt vielleicht auch manchmal gesellschaftliche Veränderungen vorweg. Deswegen zitiert Tobi Müller wohlwollend auch die Klassiker der Kulturkritik: Theodor W. Adorno und Walter Benjamin.
Am Ende findet der Leser die obligatorische Playlist.
Mein Fazit: Jeder, der gerne Popmusik hört und wissen möchte, wie Pop unser Leben prägt, muss dieses Buch lesen. Unbedingt lesenswert!
1) Tobi Müller. Play Pause Repeat. Was Pop und seine Geräte über uns erzählen. 2021 Hanser Berlin. 1. Auflage 2021. S. 16
2) Songtexte.com. Street Fighting Man Songtext von The Rolling Stones. Abgerufen am 14. September 2023
3) Hans Magnus Enzensberger Gedichte 1955-1970. Suhrkamp Taschenbuch 4. Erste Auflage 1971. S. 158
4) Tobi Müller. Play Pause Repeat. Was Pop und seine Geräte über uns erzählen. 2021 Hanser Berlin. 1. Auflage 2021. S.125
5) ebenda S. 205
6) Musikalisch gefiel mir der Discosound überhaupt nicht. Mir schien die „Ideologie“ der Diskowelle eher zu konformistisch. Mit der „Ideologie“ der Punks No Future, konnte ich auch nichts anfangen. Ich glaubte für mich und für die Gesellschaft an eine gute Zukunft. Aber als Hörer von Hardrock (Deep Purple, Led Zeppelin) war und ist Punk in allen seinen Varianten eine tolle Musik.
7) Ich gehe nie durch eine (fremde) Stadt mit einem Kopfhörer. Meine Sinne, Augen und Ohren sollen für die Geräusche, Stille und die Eindrücke einer (fremden) Umgebung offen bleiben.