Dincer Gücyeter. Unser Deutschlandmärchen.
Yaşamak! Bir ağaç gibi tek ve hür
ve bir orman gibi kardeşçesine,
bu hasret bizim!8
Leben! Wie ein Baum, einzeln und frei
und brüderlich wie ein Wald,
diese Sehnsucht ist unser!8
Einleitung
In dieser türkischen Familiengeschichte stehen Dincer und Fatma im Mittelpunkt. Erzählt wird eine komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung, mit unterschiedlichen individuellen Lebensvorstellungen. Erzählt wird die Familiengeschichte aus der Perspektive des Sohns und der Mutter. Dincer leiht seiner Mutter seine Stimme. Um ihre Ansichten zu verstehen, übernimmt er ihren Standpunkt und erzählt, wie sie vielleicht die Familiengeschichte persönlich erlebte. Zum Verständnis sollen auch fiktive Gespräche zwischen ihm und seiner Mutter beitragen.
Inhalt
Fatma wächst in der Türkei in Uşak auf. Yilmaz kommt aus Deutschland, heiratet Fatma, und kehrt mit ihr nach Deutschland zurück. Ihre Brüder bestärken sie zu dieser Heirat, weil auch sie auf ein besseres Leben in Deutschland hoffen.
Fatma hat zum zweiten Mal das Gefühl von Vaterlosigkeit. Ihr Vater starb früh und jetzt lebt sie in einem fremden Land. Fremd ist ihr auch Yilmaz. Und doch entstehen Gefühle von Heimat: eine Porzellankanne, in der sie Tee kocht und die Treffen mit türkischen Frauen.
Dincers Sympathien gehören den Frauen, weil sie den Laden am Laufen halten. Die Männer kommen schlecht weg. Sie werden als faul, bequem und unzuverlässig beschrieben.
Dincers Vater häuft mit undurchsichtigen Geschäften und einer schlecht laufenden Kneipe einen riesigen Schuldenberg an
Fatma ist alleine auf sich gestellt. Es bleibt ihr nichts anderes übrig als die Schulden durch harte Arbeit in einer Fabrik und durch zusätzliche Arbeit am Wochenende bei einem Bauern zu verringern. Dincer unterstützt seine Mutter bereits als Kind beim Geld verdienen.
Er liebt es, wenn seine Mutter Stöckelschuhe trägt. Die schönste Szene ist in diesem Buch, als Dincer von seinem ersten verdienten Geld, auf Raten für seine Mutter lila Stöckelschuhe kauft.
Diese Liebe zu seiner Mutter bekommt erste Risse durch Reisen in die Türkei. Für Dincer bedeuten die Besuche in der Türkei,
Hier ist Anatolien, die andere Fremde…………, wo nicht die Taten, sondern die Gespräche über diese Taten ein Verbrechen ist.1
Fremd ist ihm auch seine Mutter. Er erkennt seine Mutter nicht wieder. Sie passt sich den Wertvorstellungen des Dorfes an und zeigt ihm gegenüber eine bisher nicht gekannte Härte und Dincer fragt,
Trägt der Mensch in seinem Gesicht immer die Härte seiner Erde, Mutter?2
In dem folgenden Kapitel antwortet seine Mutter und erklärt die Denkweise der Menschen im Dorf,
In dem reinen Bild sprudeln schneidige Vorurteile. Veränderung, Bildung, Entwicklung werden oft als Gefahr gesehen.3
Dincer beginnt eine Lehre als Werkzeugmacher, obwohl er lieber schreiben oder am Theater spielen möchte. Dieser Wunsch als Künstler zu leben, entfremdet ihn von seiner Mutter und gleichzeitig kommt er ihr näher, weil er die Ausbildung im Unternehmen seiner Mutter beginnt. Trotz der unerwünschten Berufsausbildung bereitet ihn die Arbeit in der Fabrik auf seine spätere Arbeit im Kulturbetrieb vor. Seine Erfahrungen in der Fabrik wiederholen sich im Kulturbetrieb.
Ausgrenzung, Ignorieren, Kleindrücken sind in diesen schöngeistigen, kreativen Szenen genauso beliebt.5
Der rassistische Brandanschlag in Solingen und der NSU Terror bestärken sein Gefühl, ausgegrenzt zu sein.
Sein Wunsch als Schriftsteller zu arbeiten macht seiner Mutter Angst. Dincer soll die Eigenschaften und Fähigkeiten besitzen, die sie bei ihrem Ehemann vermisst, deshalb ist ein Kapitel überschrieben, Du warst mein verlorener Mann.
Als Frau habe ich mir nichts anderes als ein wenig Schutz, Geborgenheit gewünscht. Du warst meine zweite Chance im Leben, die solltest die Entschädigung für das Unvermögen deines Vaters sein.6
Dincer bemerkt die Enttäuschung seiner Mutter. Dies zeigen die Überschriften Verzeih mir, Mutter und Ich dein Sohn, deine Enttäuschung.
Dincer kann die Ansprüche seiner Mutter nicht erfüllen und weil sie ihn überfordern, stellt er sich den Tod seiner Mutter vor. Auf die Frage seiner Mutter, ob er sie verstehe, antwortet Dincer mit einem „Nein“.
Seine Mutter nahm ihr Leben als Schicksal hin und versuchte aus jeder Situation das Beste zu machen. Sie sprach nie von ihren Träumen und Wünschen, mit der Folge,
haben wir das Innenleben wie ein Komposthaufen faulen lassen4
Mit diesem Roman überwindet Dincer die Sprachlosigkeit seine Mutter. Er gibt ihr zum ersten Mal eine hörbare Stimme und seine Wahl Schriftsteller zu werden, überwindet seine eigene Sprachlosigkeit. Mit der Entscheidung Schriftsteller zu werden, verwirklicht er sein Märchen ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Zum Schluss beschreibt er sein Selbstverständnis als Lyriker. Er schreibt seine Texte nicht für die akademischen Kreise.
Wenn du als Gastarbeiterkind die gesamte Jugend damit verbracht hast, deinen Lehrern, den Vorarbeitern, Dozenten etwas zu beweisen, dann steckt irgendwann diese Kerbe tief im Fleisch und für den Rest des Lebens kämpfst du damit, die Wunde zu heilen, dich zu befreien. Das Resultat meines kleinen Widerstandes: Nichts kommt aufs Blatt, was auf meiner Haut keine Spuren hinterlassen hat.7
Zusammenfassung
Die verschiedenen Textformen in diesem Roman machen ihn lesenswert und zu einem Kunstwerk. Neben den Fotos enthält der Roman Gedichte, Träume, ein Brief seines Vaters, es tritt ein griechischer Chor auf. Ein Gespräch vor seiner Geburt mit den Elfen wirkt märchenhaft.
Dincer Gücyeter schrieb zunächst Gedichte und auch in seinem eigenen Elif Verlag veröffentlicht er Lyrik. So wechselt der Text zwischen poetischen und rauen Passagen. Das Buch ist eine Liebeserklärung an seine Mutter. So endet das Buch mit einem gemeinsamen Foto. Beide blicken ernst in die Kamera. Man kann nur ahnen, welche Auseinandersetzungen es gab, und doch scheint für beide das gemeinsame Foto wichtig zu sein.
Für mich ist dies das beste Buch 2023!
Popmusik: Sezen Aksun und Cem Karaca
Mit dem Wochenlohn des Bauern Willi ging Dincer 1992 in einen türkischen Lebensmittelladen, und kaufte die neue Musikkassette seiner Lieblingssängerin Sezen Aksun. Ihr Song Hadi Bakalim war ein Hit in den Diskotheken.
Sezen Aksun besitzt in der Türkei als Künstlerin eine Ausnahmestellung. Dies zeigt eine Affäre aus dem Jahr 2022. Zum Neujahr stellte sie ihren 5 Jahren alten Song Şahane Bir Şey Yaşamak (Das Leben ist wunderbar) ins Netz gestellt. In diesem Song singt sie über Adam und Eva,
Wir sind unterwegs in die Apokalypse. Grüßt mir Eva und Adam, die Unwissenden9
SeIam söyIeyin o cahiI / Havva iIe Âdeme
Für die konservativen Islamisten sind Adam und Eva heilige Personen. Sie empfanden den Song Sezen Aksuns als Angriff auf die Religion. Die Folge war ein Schlagabtausch zwischen Islamisten und Säkularen in den sozialen Medien. Zum Schluss mischte sich der türkische Präsident Erdogan ein. Es fielen Sätze, wie „Die Zunge herausreißen“.
Diesmal hatte Erdogan mit seiner scharfen Wortwahl eine rote Linie überschritten. Mehr als 200 Künstler solidarisierten sich mit Sezen Aksun. Über alle Parteigrenzen hinweg genießt Sezen Aksun eine große Popularität. In einem Fernsehinterview rudert Erdogan zurück und erklärte, er habe nicht Sezen Aksun gemeint.
Sezen Aksun schreibt und komponiert ihre Songs selbst, für sich und andere Künstler. Sie verbindet die „westliche“ Musik mit der traditionellen türkischen Musik und förderte viele türkische Musiker, u. a. Tarkan. Dem deutschen Publikum ist sie bekannt aus dem Film Crossing the Bridge des Regisseurs Fatih Akin.
Am 12. September 1980 putschte die türkische Armee zum dritten Mal. Wieder flohen viele Künstler ins Ausland, um einer Verfolgung zu entgehen. Unter ihnen auch der türkische Rockmusiker Cem Karaca. In dem Roman erzählt Dincers Mutter, das Cem Karaca bei ihnen wohnte, bevor er nach Köln ging.
Nach dem Militärputsch wurde gegen ihn ein Haftbefehl erlassen, weil er mit seinen Liedern die Bevölkerung gegen die Regierung aufsetze.
Cem Karaca war ein Vertreter der Anadolu-Rock Bewegung. In Deutschland veröffentlichte Cem Karaca eine LP in deutscher Sprache mit dem Titel Die Kanaken. In den Songs sang er über die Lebens- und Arbeitssituation der türkischen Arbeitsemigranten. (Ich konnte Cem Karaca in den 80er Jahren in Duisburg live erleben) Cem Karaca starb 2004 in Istanbul mit nur 59 Jahren
1) Dincer Gücyeter. Unser Deutschland Märchen. Mikrotext
S. 132
2) Ebenda S. 134
3) Ebenda S. 135
4) Ebenda S. 137
5) Ebenda S. 141
6) Ebenda S. 168
7) Ebenda S. 191
8) Der Text stammt aus dem Gedicht Davet (Einladung) von dem wichtigsten Lyriker der Türkei: Nazim Hikmet (* 15. Januar 1902 in Thessaloniki; † 3. Juni 1963 in Moskau). Nâzım Hikmet. Die Luft ist schwer wie Blei. Hava kurşun gibi ağır. Aus dem Türkischen von Helga Dağyeli-Bohne und Yıldırım Dağyeli. Dağyeli Verlag. 5. überarbeitete Auflage 2022. S.112 und S.113
9) SZ. Sezen Aksun:“Ich bin die Beute, du bist der Jäger“. 23. Januar 2022, 18:52 Uhr. Abgerufen am 26. Oktober 2023.