Reinhard Kleist. Der Traum von Olympia: Die Geschichte von Samia Yusuf Omar.
Einleitung
Der Right Livelihood Award 2023 („alternativer Friedensnobelpreis“) ging an SOS Méditerranée. Eine Organisation, die seit ihrer Gründung 2015, mehr als 38.000 Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken rettete.
Das Mittelmeer, ein Sehnsuchtsort vieler Menschen (mich eingeschlossen). Sonne, Strände, angenehme Wassertemperaturen, relaxte Atmosphäre. Jedes Jahr erholen sich Millionen gestresster und sonnenhungriger Europäer in den Mittelmeerländern.
Auf der Insel Lampedusa prallen zwei Welten aufeinander.7 Das Elend der Flüchtlinge und die „heile Welt“ der Touristen.
Vom Strand können die Touristen Schiffe mit geretteten Flüchtlingen beobachten, oder Schiffe, die zur Rettung von Flüchtlingen ausfahren. Durch eine perfekte Organisation wird der Kontakt zwischen Flüchtlingen und Touristen verhindert. Die Flüchtlinge werden direkt in ein streng abgeschottetes Erstaufnahmezentrum gebracht. Journalisten erhalten keine Gelegenheit, über die Zustände in dem Lager zu berichten.
Nach internationalem Recht sind Schiffskapitäne dazu verpflichtet, in Seenot geratene Menschen zu retten. Die beiden Staaten Griechenland und Italien versuchen private Seenotrettungsorganisationen zu kriminalisieren. Wer Menschen vor dem Ertrinken rettet, soll vor einem Gericht verurteilt werden!
Das Mittelmeer ist eine der gefährlichsten Flüchtlingsrouten und wird für viele Menschen seit Jahren zu einem Grab. Bis Ende September 2023 ertranken im Mittelmeer 2500 Flüchtlinge oder werden noch vermisst.8
Diese abstrakte Zahl steht für den tragischen Tod von Menschen. Reinhard Kleist erinnert an eine dieser Toten. Er erzählt in der Graphic Novel Der Traum von Olympia, die Geschichte von Samia Yusuf Omar, die im Mittelmeer ertrank.
Inhalt
Die Tragödie beginnt im Jahr 2008 in Mogadischu, in Somalia. Samia Yusuf Omars Familie, Bekannte und Freunde, sitzen vor einem der wenigen Fernseher, und fiebern dem 200 m Vorlauf mit Samia bei den Olympischen Spielen in Peking entgegen. Gegen die durchtrainierten und muskulösen Körper ihrer Konkurrentinnen besitzt Samia nicht den Hauch einer Chance. Ihre Konkurrentinnen laufen in aerodynamischer Kleidung und erhalten eine auf ihren Leistungssport abgestimmte Ernährung und trainieren unter optimalen Bedingungen. Samia trägt ein T-Shirt, dass sie beim Laufen behindert. Äußerlichkeiten, die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern sichtbar machen. Obwohl sie letzte wird, ist die Familie stolz auf Samia, weil sie nur mit einem weiteren Sportler aus Somalia an den Olympischen Spielen teilnimmt, und die Fahne ihres Landes beim Einmarsch trägt.
2008 beherrscht die militante islamische Al-Shabaab Teile Somalias. Sie legen die Scharia sehr streng aus. Für Samia als Sportlerin und Frau beginnen die Schwierigkeiten. Sie bekommt Todesdrohungen. Die Islamisten erschießen Ihren Vater. Ihre Schwester emigriert nach Europa.
Ihre einzige Hoffnung ist das Laufen. Ihr Ziel, die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2012 in London. Jedes Land kann zwei Athleten ohne Qualifikation zu den Spielen schicken. Sie will Profisportlerin werden, damit auch ihre beiden Geschwister eine Schule besuchen.
Wegen der schlechten Trainingsbedingungen fliegt sie nach Addis Abeba zum Olympia-Team. Ihre Erwartungen werden enttäuscht.
Mit ihrer Tante macht sie sich auf den Weg nach Italien, auf eine gefährliche und abenteuerliche Route. Sie gelangen vom Kriegsgebiet Somalia in das Kriegsgebiet Libyen. Sie werden von Banden überfallen. Schleuser nutzen die Notsituation aus und verkaufen Nahrungsmittel und Getränke zu überhöhten Preisen. Der Traum von Olympia lässt Samia diese Strapazen ertragen.
In Sabha (Libyen) scheint die Flucht zu enden. Bis zur Weiterfahrt vergehen Wochen und Samia läuft die Zeit davon. Bis zum Beginn der Olympischen Spiele in London sind es nur wenige Monate.
Schleuser organisieren eine Überfahrt nach Europa. Das Boot wird von der libyschen Küstenwache abgefangen und Samia landet im Gefängnis. Bei der zweiten Überfahrten nach Europa entpuppt sich das „Schiff“ als meeresuntauglich: ein motorgetriebenes Schlauchboot.
Irgendwo vor Malta ertrinken Samia und andere Menschen im Mittelmeer.
Zusammenfassung
Samia hielt während ihrer Flucht über Facebook Kontakt mit ihren Angehörigen. Bis auf einen Eintrag sind alle Facebook-Posts gelöscht. Kleist erfand im Comic neue mögliche Posts. Dieser Comic ist keine exakte Biografie von Samia und auch die Umstände ihrer Flucht und ihres Todes sind nicht bekannt. Über die Journalistin Teresa Krug bekam Reinhard Kleist Kontakt zu Samias Schwester und erhielt Einblick in das Leben der Angehörigen. Außerdem stützte sich Kleist auf die Berichte anderer Migranten .
Der Comic erzählt nicht nur von einem individuellen Schicksal, sondern benennt auch Fluchtursachen. Flüchtlinge sind keine überraschenden Naturkatastrophen. Viele Fischer verloren in Somalia ihre Existenzgrundlage, weil große Fischkutter, auch aus der EU, illegal die Fischgründe vor Somalia leer fischten.6
Beim Lesen eines Romans sieht der Leser vielleicht vor seinem inneren Auge Bilder. Ein Comic liefert diese Bilder gleich mit. Dieser Comic ist in eindrucksvollen schwarz-weiß Bildern gezeichnet. Die Bilder zeigen eine zerstörte, menschenfeindliche Welt und die Gesichter verängstigter und in Panik geratener Menschen. Einige Bilder erinnern an die Apokalypse. Häufig sind die Bilder sparsam mit Text versehen oder Kleist verzichtet ganz auf Text. Die Bilder sprechen für sich.
Ein menschenverachtender Begriff der Populisten ist die Bezeichnung „Asyltourismus“. Ein Begriff der Flucht verharmlost. Diese Graphic Novel zeigt, mit jeder Flucht riskieren Flüchtlinge ihr Leben. Die Flucht wird zu einer Odyssee und für die Flüchtlinge beginnt ein Leben der absoluten Unsicherheit. Eine Planung der Fluchtroute ist unmöglich. Ein Flüchtling stellt sich jeden Tag immer die gleichen Fragen: Wo werde ich am nächsten Tag übernachten? Wann endet meine Flucht? Was erwartet mich am Ziel?
Popmusik: Kate Tempest – Europe is lost
Die Liedtexte der Rap-Musik und des Hip-Hops gehören wie auch andere Liedformen manchmal zur Lyrik. Leider begeistern mich selten die deutschen Rapper mit ihren banalen Texten und dämlichen Videos. Außerdem ist dieser Musikstil von Männern dominiert, und die halten sich häufig für das Zentrum des Universums. Die Texte enthalten frauenfeindliche und antisemitische Ansichten.1
Chuck D., Mitglied der Hip-Hop Gruppe Public Enemy, nannte den Rap als das CNN der Schwarzen.1 Der Rap bietet die Möglichkeit, für jeden hörbar, Kritik an der Gesellschaft zu üben. In dieser Tradition steht auch Kae (Kate) Tempest. Eine britische Lyrikerin und Rapperin, geboren am 22. Dezember 1985 in London.
Sie verbindet Pop, Poesie und Politik mit einer kraftvollen und mitreißenden Performance.2 Im Oktober 2016 erschien ihre zweite LP Let Them Eat Chaos9. Die LP erzählt von sieben Menschen, die in einer Straße wohnen und sich zum ersten Mal treffen, nachdem ein Sturm sie zwingt ihrer Häuser zu verlassen. Themen dieses Album sind das entfremdete Leben der Bewohner, der Kapitalismus, politische Korruption und globale Erwärmung. Der Song Europe is lost wurde auch als Single ausgekoppelt. Im ersten Vers heißt es.
Europe is lost, America lost, London lost
Still we are clamouring victory
All that is meaningless rules
We have learned nothing from history4
Europa ist kaputt
Amerika ist kaputt
London ist kaputt
Und wir machen immer noch Siegeslärm
Wir kreisen um Geistlosigkeiten
haben nichts aus der Geschichte gelernt10
Europa hält sich nicht an seine eigenen Werte und hat nichts aus der Geschichte gelernt. Zu dem mangelhaften Wissen über die eigene Geschichte gehört eine Fehleinschätzung der aktuellen Situation. Europa befindet sich mit seinem Wohlstand in einer Ausnahmesituation. Migration ist keine Erscheinung dieses Jahrzehnts. Zur Erinnerung: Zwischen 1820 und 1913 verließen aus ökonomischen und politischen Gründen 52 Millionen Menschen Europa.3 Die größte Gruppe der Auswanderer stammt aus Deutschland.
Kate Tempest singt über die feindliche Haltung gegenüber Migranten in England und Europa und den zunehmenden Nationalismus.
And about them immigrants? I cant stand them
Mostly, I mind my own business
But they’re only coming over here to get rich
It’s a sickness
England! England!
Patriotism!4
Und diese Migranten? Ich kann die nicht ab
Ich halte mich ja meistens raus,
aber die nutzen uns doch nur aus
England! England!11
Patriotism!4
In dem Song Tunnel Vision singt Kate Tempest über ertrinkende Flüchtlinge.
Running from war, the boat’s full, the boat’s sinking a mile off shore14
Auf der Flucht vor dem Krieg.
Die Boote sind voll.
Die Boote kentern
eine Meile vorm rettendenUfer12
In dem Song Don’t Fall In rappt sie gegen das Denken in Grenzen.
Come to remind you you’re not an island
Life is much broader than borders.5
Gekommen, um euch zu erinnern,
ihr seid keine Insel.
Das Leben ist niemals so eng
wie eure Grenzen13
Reinhard Kleist. Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar. Carsten Verlag.
1) Antisemitismus und Misogynie im Deutschrap. Belltower. Netz für digitale Zivilgesellschaft. Von Nene Opoku 21. Oktober 2021. Abgerufen am 22. November 2023
2) The Guardian. Kate Tempest: Let Them Eat Chaos review – pop, poetry and politics collide. Alexis Petrides. 6 Oct 2016. Abgerufen am 22. November 2023.
3) Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln. Deutsche Einwanderung in den USA im 19. Jahrhundert. Lehren für die deutsche Einwanderungspolitik. IW police paper . 7/2016. Abgerufen am 22. November 2023.
4) Genius. Kate (Kae) Tempest. Europe is lost. Abgerufen am 22. November 2023.
5) Genius. Kate (Kae) Tempest. Don’t Fall In. Abgerufen am 22. November 2023.
6) TAZ. Piraterie vor Somalia: Vom Selbstschutz zur Erpressung. 18. 12. 2008, 02:00 Uhr. Abgerufen am 22. November 2023.
7) Der Standard. Flucht und Migration. Lampedusa, der Hotspot des kollektiven Verdrängens. 18. Juli 2023. Abgerufen am 23. November 2023.
8) TAZ. Flucht über das Mittelmeer im Jahr 2023: Schon 2.500 Menschen ertrunken. 29. 9. 2023, 09:22 Uhr. Abgerufen am 23. November 2023.
9) Kate Tempest. Let Them Eat Chaos. Sollen sie doch Chaos fressen. Lyrik. Englisch und deutsch. Übersetzt von Johanna Davids. Erste Auflage 2018. Edition Suhrkamp 2754.
10) ebenda S.41
11) ebenda S.49
12) ebenda S. 145
13) ebenda S. 95
14) Genius. Kae (Kate) Tempest. Tunnel Vision. Abgerufen am 13.Dezember 2023