Didier Eribon. Rückkehr nach Reims
Es war an der Zeit, >>die Beleidiger zu beleidigen<<,3
Interesse für Kunst oder Literatur hat stets, ob bewusst oder unbewusst, auch damit zu tun, dass man das Selbst aufwertet, indem man sich von jenen abgrenzt, die keinen Zugang zu solchen Dingen haben; es handelt sich um eine „Distinktion“, einen Unterschied im Sinne einer Kluft, die konstitutiv ist für das Selbst und die Art, wie man sich selbst sieht, und zwar immer im Vergleich zu den anderen – den „bildungsfernen“ oder „unteren“ Schichten etwa.7
Einleitung
Didier Eribon wurde 1953 geboren und lehrt Soziologie an der Universität von Amiens. Bekannt wurde er mit einer Biografie über seinen Freund, den Soziologen Michel Foucault.
Rückkehr nach Reims erschien bereits 2009 in Frankreich und wurde 2016 in Deutschland zu einem Bestseller.
Einige Textabschnitte enthalten eine soziologische Fachsprache und übernehmen Thesen der Soziologen Pierre Bourdieu und Michel Foucault. In dieser Biografie und soziologischem Essay beschreibt Didier Eribon den Bruch mit seiner Familie aus dem Arbeitermilieu. Über die Schwierigkeiten seines eigenen sozialen Aufstiegs und sein Outing als Homosexueller. Das Buch ist eine Milieustudie und eine Sozialgeschichte. Um seine persönliche Situation besser zu verstehen, analysiert er das Leben seiner Eltern und verbindet geschickt seine Lebensgeschichte mit sozialen und politischen Themen. In einem kleineren Abschnitt analysiert Eribon, warum seine Familie und Teile der französischen Arbeiter rechtsextrem wählen.
Inhalt
Eribons Rückkehr nach Reims ist eine Rückkehr in seine Kindheit und Jugend. Er sieht nach vielen Jahren zum ersten Mal seine Mutter. Anlass ist der Tod seines Vaters, der an Alzheimer erkrankte. Er verachtete seinen Vater, ein Tyrann.
Fotoalben konfrontieren ihn mit seiner Kindheit, Jugendzeit und seiner sozialen Herkunft. Er wächst in einer Arbeiterfamilie auf: Seine Mutter ist Putzfrau, der Vater Fabrikarbeiter.
Er entfremdete sich von seiner Familie, ging nach Paris und kappte den Kontakt zu seinen Eltern. Er fühlt sich nicht wohl in der Welt der Arbeiter. Der Bruch mit seiner Familie wird zu einer doppelten Befreiung. Das Verlassen seiner sozialen Klasse ermöglicht ihm den sozialen Aufstieg, und er muss nicht länger seine Homosexualität verleugnen. Er hat jedoch Schwierigkeiten, in seiner neuen sozialen Umgebung „anzukommen“. In Paris fällt es ihm einfach, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Dagegen schämt er sich für seine Herkunft aus der Arbeiterklasse.
Sein Vater vertrat „typische Arbeiterüberzeugungen“, die Eribon strikt ablehnte. In den Gesprächen mit seiner Mutter wird die familiäre Vergangenheit für ihn wieder präsent. Die Einstellungen seiner Eltern werden von der „sozialen Gewalt“, der Armut und der krankmachenden Arbeit in der Fabrik bestimmt. Dieses Leben prägte Eribons Persönlichkeit und wirkte im Erwachsenenalter weiter.
…….,weil ich dachte, man könne ein Leben losgelöst von seiner Familie leben und sich neu erfinden, indem man der Vergangenheit und denen, die sie bevölkern, den Rücken zukehrt.5
Von Geburt an tragen wir die Geschichte unserer Familie und unseres Milieus in uns, sind festgelegt durch den Platz, den sie uns zuweisen.8
Sein Vater arbeitete bereits mit 14 Jahren in der Fabrik. Seiner Mutter war wegen der Armut und des Krieges ein höherer Bildungsweg verbaut. Sie wollte Lehrerin werden.
Es existiert(e) ein Bildungssystem, das Kinder frühzeitig, entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, in eine bestimmte Schullaufbahn zwängt(e). Ein sozialer Determinismus, der über das zukünftige soziale Schicksal entscheidet. Für Eribons Eltern lag es jenseits ihrer Vorstellungen, dass ein Kind aus einer Arbeiterfamilie ein Gymnasium besucht!
Seine Mutter konnte weder studieren noch eine Ausbildung abschließen und darunter litt sie, obwohl sie intelligent genug war. Eribon verdankt es seine Mutter, dass er aufs Gymnasium ging und studieren konnte. Als Kompensation für ihren nicht erfolgten sozialen Aufstieg ist er der erste aus der Familie mit einem höheren Schulabschluss.
Um mich selbst neu zu erfinden, musste ich mich zuallererst abgrenzen.4
Gefördert wurde diese Trennung durch die ständigen Streitereien seiner Eltern. Auch mit seinen Tätigkeiten distanzierte er sich von seiner sozialen Schicht
Sein Interesse für Kunst und Literatur war ein weiterer Weg sich von seiner Familie abzugrenzen. Lesen und schreiben als Gegensatz zur manuellen Tätigkeit der Arbeiter. Er wollte das genaue Gegenteil seiner Familie sein.
>>Mein Erfolg befasst sich an der Distanz, die ich zwischen ihn und mich legen konnte.<<6
Andererseits glorifizierte er die Arbeiterklasse als wichtige soziale und politische Gruppe. um sich gleichzeitig von den realen Arbeitern und seiner Familie abzugrenzen.
Seine Eltern wählten die KPF: Kommunistische Partei Frankreichs. Für sie vertrat die KPF die Interessen der „kleine Leute“. Die KPF gab den Arbeitern das Gefühl einer politischen Einflussnahme. Sie nahmen sich als eigenständige soziale Gruppe wahr und wurden von der KPF als eigenständige Gruppe anerkannt.
Die Wahl war also ein wichtiger Moment der kollektiven Selbstaffirmation, man versicherte sich des eigenen politischen Gewichts.2
Bloß, wer vertritt heute die Interessen der Arbeiter? Wer kennt heute die Wünsche und Träume der Arbeiter? Warum wählen Teile der französischen Arbeiter rechtsradikal?
Auch in der Vergangenheit wählte nicht die gesamte Arbeiterschaft sozialistisch oder kommunistisch. In der Arbeiterschaft herrschten konservative Ansichten: eine Ablehnung der Emanzipation der Frau, eine Ausgrenzung von Minderheiten, ein latenter Rassismus. Ein abweichendes Verhalten von den „traditionellen Normen“ wurde nicht akzeptiert. Überzeugungen, die sich mit den Positionen rechtsradikaler Parteien decken. Eribon erklärt das Erstarken der Rechtsradikalen auch mit dem Versagen der „Linken“.
Die ehemaligen „linken“ Parteien passten sich der neoliberalen Wirtschaftspolitik an. Damit besaßen die Arbeiter keine politische Stimme mehr und fühlten sich im Stich gelassen. Aus dieser Ohnmacht entstand Wut. Die Wahl der Rechtsradikalen war eine politische Notwehr, um ihre Identität als Arbeiter zu retten, denn sie begriffen sich gegenüber dem Bürgertum und den Reichen als eigenständige Gruppe. Die Rechtsradikalen ersetzten den Gegensatz zwischen „unten“ und „oben“, durch den Gegensatz zwischen Franzosen und Ausländer. Die Identität Arbeiter wird durch die Identität Franzose ersetzt. Verantwortlich für die schlechte Situation der Arbeiter ist die Migration, gefördert von den Eliten gefördert. Damit ist das neue Feindbild perfekt: Ausländer und Eliten.
Zusammenfassung
Der folgende Satz war entscheidend für Eribon:
>>Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat,
sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.<<1
Er war zu einem Außenseiter „gemacht“. Er schämte sich wegen seiner Homosexualität und trotz Beleidigungen und physischer Gewalt, akzeptierte er seine Homosexualität als einen Teil seiner Identität.
Er schämte sich, dass er zu einem Arbeiterkind „gemacht“ wurde. Mit einer höheren Schullaufbahn und einem Studium veränderte er seine soziale Identität und „machte“ sich zu einem Intellektuellen.
1) Didier Eribon. Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Erste Auflage 2023. Suhrkamp Taschenbuch 5313.
S.219
2) ebenda, S.37
3) ebenda, S.93
4) ebenda, S.53
5) ebenda, S.13
6) ebenda, S.103
7) ebenda, S.98
8) ebenda, S. 46
Pierre Bourdieu. Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur, Band 1. VSA Verlag.