Tonio Schachinger. Nicht wie ihr
Einleitung
Tonio Schachinger ist ein österreichischer Schriftsteller und wurde 1992 in Neu-Delhi geboren. Sein Debütroman über einen Fußballspieler, Nicht wie ihr, stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2023 erhielt er für seinen Roman Echtzeitalter den Deutschen Buchpreis.
Inhalt
Ivo gehört nicht zu den Normalsterblichen. Für ihn existieren vier wichtige „Orte“: seine Familie, als Millionär kann er sich im Gegensatz zu einem Arbeiter häufig ein neues Auto leisten, um mit lauter Musik ziellos durch die Gegend zu fahren, und seine Arbeit als Fußballspieler. Die Durchschnittsmenschen wirken auf Ivo fade. Er ist für die Öffentlichkeit als Fußballstar viel zu interessant, um sich fad zu fühlen. So sitzt er allein in einem Luxusauto, einem Sportwagen Bugatti, und blickt auf seine Umgebung, mit einem Überlegenheitsgefühl.
Ivo spielt als Fußballstar in der englischen Premier League, bei Everton. Er lebt in London und ist ein Migrant aus Bosnien. Er ist ein Individualist, unangepasst, ein Familienmensch und ein Außenseiter, der österreichische Dialektwörter nutzt, um seine gelungene Integration zu demonstrieren. Trotz seines sozialen Aufstiegs schwelgt Ivo gern in seinen Erinnerungen und hält Kontakt zu seinen alten Freunden. Er beginnt eine Affäre mit seiner Jugendliebe Mirna, die er bewundert. Sie studierte und interessiert sich für Politik.
Ivo ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und beendet die Affäre mit Mirna. Die Trennung ist eine Schlüsselszene, die den Charakter von Promis verdeutlicht. Mirna reagiert auf Ivos Trennungsvorschlag kühl. Ihre kühle Reaktion greift sein Ego an. Er, der immer im Mittelpunkt steht, den alle verehren, der sich durch die Bewunderung anderer bestätigt fühlt!
Nach einem Hubschrauberabsturz befürchtet er den Tod seiner Frau und Tochter. Seine Frau und Tochter leben und das verändert sein Lebensgefühl. Ivo bekommt zu seinen bisherigen vier wichtigen „Orten“ einen weiteren „Ort“, der seine bisherigen „Orte“ vereint: das Glücksgefühl. Damit wird aus einem Nicht wie ihr, ein Doch wie ihr. Dieses neue Glücksgefühl möchte er, wie alle Menschen festhalten. Doch das Glück ist flüchtig. Das Buch endet mit einem Fußballspiel. Nach einer gelben Karte erhält Ivo eine rote Karte und muss vorzeitig in die Kabine.
Ivo sieht sich als Teil eines Zirkus mit verschiedenen überflüssigen Darstellern, die er nicht respektiert. Er macht sich lustig über den Meditationstrainer mit seinem Positive Thinking. Für ihn „Mental-Blaba“1. Natürlich bekommen auch die Funktionäre ihr Fett ab.
Ein Kommunikationsdramaturg instruiert die Bosnier der österreichischen Nationalelf, welche Phrasen sie gegenüber den Journalisten zum Spiel gegen Bosnien verwenden sollen. Nur die Spieler mit Migrationshintergrund werden gebrieft. In diesem Moment fühlt sich Ivo wieder als Ausländer. In Österreich werden Menschen aus den Balkanstaaten abwertend als Tschuschen bezeichnet. Zwar sagt man heute auch nicht mehr Ausländer, sondern Mensch mit Migrationshintergrund. Dies benennt einen alten Zustand mit neuen Wörtern und meint noch immer dasselbe: Ihr gehört nicht dazu.
Am 17. Juni 1998 schoss der gebürtige Kroate Ivica Vastic in der 92. Minute bei der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich für Österreich den Ausgleich gegen Chile. Am nächsten Tag erscheint die Boulevardzeitung Krone mit der Schlagzeile: Ivo, jetzt bist du ein richtiger Österreicher!3 Ein Mensch mit Migrationshintergrund wird nur dann als „richtiger“ Bürger seines Landes anerkannt, wenn er etwas Außergewöhnliches leistet.
Solange ein Fußballstar erfolgreich spielt, sich anpasst und keine Fehler macht, hat der Migrationshintergrund keine Bedeutung. Mesut Özil galt lange als Musterbeispiel für eine gelungene Integration. Nachdem Özil bei den Länderspielen nicht die Nationalhymne mitsang und sich mit Erdogan ablichten ließ, begann die Entfremdung zwischen Deutschland und Özil.
Der Vorwurf, dass er nicht die Nationalhymne mitsang, unterstellt Özil eine geringe Identifikation mit Deutschland und der Nationalelf. Ein absurder Vorwurf, denn Özil spielte lange Jahre auf Weltklasseniveau in der Nationalelf und trug entscheidend zum Weltmeistertitel 2014 bei.
Mesut Özil vorzuwerfen, er habe sich mit Erdogan getroffen, ist geradezu heuchlerisch. Man denke an die enge politische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei, damit Erdogan die Einreise von Flüchtlingen nach Deutschland verhindert.
Für das frühe Ausscheiden bei der Weltmeisterschaft 2018 wurde Özil mit seinen schwachen Spielen zum Sündenbock und erklärte mit der folgenden Begründung seinen Rücktritt aus der Fußballnationalelf.
In den Augen von Grindel und seinen Helfern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren… Gibt es Kriterien, ein vollwertiger Deutscher zu sein, die ich nicht erfülle? Meine Freunde Lukas Podolski und Miroslav Klose werden nie als Deutsch-Polen bezeichnet, also warum bin ich Deutsch-Türke? Ist es so, weil es die Türkei ist? Ist es so, weil ich ein Muslim bin? Ich denke, hier handelt es sich um eine wichtige Sache. Indem man als Deutsch-Türke bezeichnet wird, werden Menschen bereits unterschieden, die Familie in mehr als einem Land besitzen. Ich wurde in Deutschland geboren und ausgebildet, also warum akzeptieren die Leute nicht, dass ich Deutscher bin?5
Zusammenfassung
Schachinger beschreibt detailliert die komplexe Persönlichkeit eines (Fußball)-stars und sein Privatleben. Der Leser nimmt teil an seinen inneren Monologen. An seinen Gedanken zu verschiedenen existentiellen Fragen und zu seiner Identität als Fußballstar, jenseits seiner öffentlichen Inszenierung. Er macht sich Gedanken zu seiner Familie, Herkunft, Rassismus und zu seiner Stellung als Fußballstar.
Für seine Recherchezwecke nutzte Schachinger die Instagram Profile von Fußballstars.
In dem Roman tauchen auch immer wieder die Namen von realen Fußballspielern auf, über die der fiktive Fußballstar Ivo lästert. Es ist sehr amüsant, wie Ivo über deutsche Fußballstars und über die Deutschen allgemein, die Piefkes lästert.
1) Toni Schachinger. Nicht wie ihr. Kremayr & Scherau.
S. 37
2) ebenda S. 58
3) Der Standard. Neue Heimat Fußballplatz. 15. Mai 2007, 19:33. Abgerufen am 13. April 2024.
4) Tagesschau. Verlauf der Özil-Debatte. Vom Erdogan-Foto bis zum Rücktritt. Stand: 23.07.2018, 13:07 Uhr.
5) Tagesschau. Übersetzung der Özil-Erklärung“. Nicht länger als Sündenbock dienen“, Stand: 23.07.2018, 09:43 Uhr.