Theodor W. Adorno. Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Aspekte des neuen Rechtsradikalismus
Einleitung
Antisemitismus ist das Gerücht über Juden4
Ein Antisemit behauptet, die Juden seien am Kriege schuld; die Antwort lautet: Ja, die Juden und die Radfahrer. Warum die Radfahrer? fragt der eine; warum die Juden? fragt der andere.7
Theodor W. Adorno (* 11. September 1903, † 6. August 1969) war ein deutscher Philosoph und Soziologe. Er war Leiter des Instituts für Sozialforschung und zählt mit Max Horkheimer zu den Vertretern der Kritischen Theorie, bekannt auch als Frankfurter Schule.
Adorno hielt diesen Vortrag am 2. November 1962 auf einer Tagung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christliche-Jüdische Zusammenarbeit.
Der Text endet mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma.
Inhalt
Adorno nennt den Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland als „sekundären Antisemitismus“. Die Eltern der Kinder waren Anhänger des Nationalsozialismus und verteidigten sich gegenüber ihren Kindern mit antisemitischen Argumenten. Sie tolerierten antisemitische Argumente zur Abwehr der eigenen Schuld und gaben den Antisemitismus an die nächste Generation weiter.
Obwohl rechtsradikale Bewegungen einen militanten Nationalismus propagieren und die eigene nationale Identität hervorheben, besteht zwischen den verschiedenen nationalistischen Bewegungen ein Bindemittel: der Antisemitismus. Der Erfolg gegen den Antisemitismus hängt auch mit einem Zurückdrängen des Nationalismus zusammen. In Deutschland wird seit Jahren diskutiert, einen Patriotismus zu dulden. Nach Adornos Analyse wäre auch ein „milder“ Nationalismus in Form eines Patriotismus abzulehnen.
Menschen, die für den Antisemitismus anfällig sind, benennt Adorno als autoritäre Persönlichkeiten5. Bestandteil dieser Persönlichkeiten sind Anti-Intellektualismus und Konformismus. Für Konformisten gilt die Abweichung von der Mehrheitsmeinung als gefährlich. Ihre Hetze gegen Intellektuelle kann auch verdeckten Antisemitismus beinhalten. Antisemiten verbreiten gerne das Stereotyp, Juden seinen intelligenter und begabter und eine Gefahr für die Gesellschaft. Selbstverständlich ist Intelligenz keine Gruppeneigenschaft, sondern eine individuelle Eigenschaft.
Diese autoritären Persönlichkeiten sind, wie in Heinrich Manns Roman Der Untertan, Pseudorebellen, die sich zu Opfern stilisierten und sich vor den Mächtigen ducken.
Antisemitismus ist der Ausdruck einer sozialen Unzufriedenheit, die sich nicht traut, an die Öffentlichkeit zu gehen. Wer sich marginalisiert fühlt, sucht eine größere Gemeinschaft, um nach außen sichtbar zu sein und seine Unzufriedenheit auszudrücken. Die Unzufriedenheit richtet sich nicht gegen die eigentlichen Verursacher. Die Juden werden zu Schuldigen erklärt und die Aggression und Wut wird auf eine Minderheit umgelenkt. Gleichzeitig inszenieren sich Antisemiten bei Kritik als Verfolgte, weil sie nur ihre „Meinung äußern“.
Der Antisemit diskriminiert nicht nur Juden ab, sondern auch anderer Minderheiten. So schreibt Jean-Paul Sartre zurecht
Kein Franzose wird in Sicherheit sein, solange noch ein Jude in Frankreich und in der ganzen Welt um sein Leben fürchten muss.6
Was tun?
Die Propaganda des Antisemitismus spricht das Unterbewusstsein der Menschen an, um vorhandene Vorurteile und Neigungen zu verstärken. Deshalb darf man sich auf bestimmte Argumentationsmuster der Antisemiten nicht einlassen.
Für Adorno ist es sinnlos, sich über den Antisemitismus zu entrüsten, sondern,
Nur wenn man auch das Alleräußerste – nicht einfühlend, sondern schematisch – noch zu verstehen mag, wird es einem möglich sein, sinnvoll und mit Wahrheit dagegen zu wirken1
Hier zeigt sich der vielleicht (zu große) Optimismus Adornos, auf jegliche Propaganda zu verzichten und mit Vernunft und Wahrheit den Antisemitismus zu bekämpfen.
Für Adorno besteht ein Zusammenhang zwischen den antisemitischen Vorurteilen und der autoritären Persönlichkeit. Daraus folgt ein antiautoritäres Erziehungsprogramm, um die Bildung antisemitischer Charaktere zu verhindern. Pädagogische Mittel können nur begrenzt den Antisemitismus erfolgreich bekämpfen.
Antisemitismus ist kein Urphänomen, sondern verantwortlich sind auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Adorno fordert ein hartes Durchgreifen bei antisemitischen Aktionen. Autoritäre Menschen sind angepasst und ordnen sich Autoritäten unter. Sie müssen bei antisemitischen Aktionen, die Strafen eines starken Staates spüren, denn Schwäche wird von Antisemiten missverstanden.
Adorno wehrt sich dagegen, ein idealisiertes Gegenbild von Juden zu entwerfen. Auch in der Geschichte der Juden gibt es Furchtbares, wie auch in der Geschichte anderer Völker und andererseits unterstützten Juden im bürgerlichen Zeitalter die Aufklärung.
Das grausame Ergebnis des Antisemitismus war Auschwitz, und Adorno beendet seinen Vortrag:.
So etwas soll nicht noch einmal sein2
Im Nachwort ordnet Jan Philipp Reemtsma den Text in den zeitlichen Kontext ein und geht auf den aktuellen Antisemitismus seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 ein.
Die Geheimnislosigkeit des Antisemitismus ist sein anhaltendes Karrieremodell.3
Mit dem Slogan Kindermörder Israel auf den antiisraelischen Demonstrationen seit dem 7. Oktober 2023 skandieren die Demonstranten ein altes christliches antisemitisches Motiv.
Kennzeichen des Antisemitismus ist das Ausschalten jeder Rationalität und das Ansprechen der Affekte, mit auf Israel nicht näher definierten Schlagwörtern, wie Kolonialismus, Genozid oder Apartheid. Diese Schlagwörter dienen der Bildung und Bestätigung der eigenen Gruppenidentität. Gleichzeitig wird mit diesen Schlagwörtern der Staat Israel delegitimiert.
Eine weitere Losung, die auf den Demonstrationen gerufen wurde, war Free Palestine from German Guilt – befreit Palästina von deutscher Schuld. Nun gibt es verschiedene Interpretationen zu diesem Slogan. Deutschland vertritt wegen seiner Schuld eine zu proisraelische Position und nimmt das Leid der Palästinenser nicht zur Kenntnis. (Das Leid der Menschen in Gaza ist in der deutschen Öffentlichkeit präsent! Man darf die israelische Militäraktion im Gazastreifen mit den vielen Toten kritisieren!).
Allerdings erinnert der Slogan auch an die Parole der Rechtsradikalen vom „Schuldkult“, der die deutsche Verantwortung für die NS-Verbrechen leugnet oder verharmlost. Wenn Demonstranten Free Palestine from German Guilt skandieren, heißt das auch:
Vergesst den Holocaust und unterstützt die Palästinenser.
Hier treffen sich rechtsradikale und antiisraelische Demonstranten. (Manchmal demonstrieren beide Gruppen gemeinsam gegen Israel). Beide wollen einen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ziehen.
1) Theodor W. Adorno. Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Ein Vortrag. Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Erste Auflage 2024. Originalausgabe. Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024. S.14
2) ebenda S.56
3) ebenda S.86
4) Theodor W. Adorno. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp Taschenbuch 1704. S.125
5) Theodor W. Adorno. Studien zum autoritären Charakter. Übersetzt von Milli Weinbrenner. Vorrede von Ludwig von Friedeburg. 12. Auflage 2020. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1182.
6) Jean-Paul Sartre. Überlegungen zur Judenfrage. Deutsch von Vincent von Wroblewsky. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Politische Schriften. Band 2. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. April 1994. S.91
7) Hannah Arendt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalirismus. Piper Verlag GmbH. November 2023. S. 53
Aspekte des neuen Rechtsradikalismus
Einleitung
Theodor W. Adorno hielt diesen Vortrag am 6. April 1967 an der Universität Wien auf Einladung des Sozialistischen Studentenbundes im Kontext einer erstarkenden NPD.
Für Adorno ist das kapitalistische Wirtschaftssystem eine entscheidende Bedingung für rechtsradikale und faschistische Bewegung. Die zunehmende Automatisierung führt zu einer höheren Arbeitslosigkeit und Deklassierung vieler Menschen. Der Gedanke übernimmt die marxsche Verelendungstheorie und benennt die Wirtschaftskrise als eine der Ursachen für den Aufstieg des Faschismus in den 30er Jahren in Deutschland. Rechtsradikale Bewegungen schlagen aus Krisen politisches Kapital. Die Krise wird geradezu herbeigesehnt. Sie konfrontieren die Menschen mit immer neuen Angst-Szenarien, die sie mit ihrer Propaganda verstärken.
Wenn die rechtsradikalen Bewegungen auch rückwärtsgewandt sind, darf man sie nicht unterschätzen. Die Propaganda dieser Bewegungen ist geradezu genial. Ein Wahnsystem zu vertreten und gleichzeitig die neuesten Technologien für eine politische Propaganda zu nutzen, sind kein Widerspruch.
Die Propaganda ist essenziell für diese politischen Bewegungen. Teil dieser Propaganda ist es, Feindbilder zu benennen. (Kommunisten, Juden, Intellektuelle etc.)
(Aktuelle rechtsradikale Feindbilder sind „linksgrün versifft“ oder „rotgrün versifft“. Diese Begriffe zeigen die menschenverachtende Ideologie der Rechtsradikalen. Menschen und deren Ideen werden mit Müll und Abfall gleichgesetzt.)
Wahre oder richtige Beobachtungen werden aus dem Zusammenhang gerissen. Es wird mit falschen Zahlen und mit Behauptungen (Fake News) argumentiert, die schwer zu überprüfen sind.
Wie bei Teilen der politischen Linken ist auch bei den Rechtsradikalen ein tief verwurzelter Antiamerikanismus vorhanden, als Folge der nationalistischen Ideologie und der Forderung nach „nationaler Souveränität“. Die Nazis werden den Amerikanern niemals verzeihen, dass sie Hitler besiegten. Die Stärkung des Nationalismus ist eine Reaktion auf das Entstehen großer internationaler Blöcke, die scheinbar die persönliche Existenz bedrohen. Anhänger des Nationalismus finden sich in allen Bevölkerungsschichten, wenn es auch Gruppen gibt, die besonders anfällig sind. Für Adorno sind faschistische Bewegungen
Wundmale,…Die Narben einer Demokratie1
Weil Demokratie noch nicht konkret, sondern nur formal verwirklicht ist.
Die Bewegung verhalten sich nicht offen antidemokratisch, sondern beschimpfen die anderen Parteien als antidemokratisch. Die rechtsradikalen Bewegungen befinden sich in einem Konflikt. Es bestehen juristische und gesellschaftliche Grenzen der Meinungsfreiheit. Die Rechts-radikalen antworten mit der Salamitaktik und dem aktuellen Slogan „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“. Die Grenzen des Sagbaren sollen ausgeweitet werden, um die eigene politische Agenda stärker in die gesellschaftlichen Diskurse einzubringen.
Es hilft keine Gegenpropaganda, sondern man muss den Anhänger der Rechtsradikalen vor Augen führen, dass die Politik der Rechtsradikalen in die Katastrophe führt.
1) Theodor W. Adorno. Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag. Mit einem Nachwort von Volker Weiss. Suhrkamp 6. Auflage 2019. S.18
Zusammenfassung
Beide Vorträge muss man unbedingt nacheinander lesen, denn Antisemitismus und Rechtsradikalismus sind zwei Seiten einer Medaille. Autoritäre Persönlichkeiten sind empfänglich für beide Wahnsysteme.
Die politische Situation in den 60er Jahren ist nicht vergleichbar mit der heutigen Zeit. Doch sind die Vorträge Adornos teilweise ein aktueller Kommentar zur AFD und dem Erstarken des Rechtspopulismus in Europa.
Popmusik:
Antilopengang: Beate Zschäpe hört U2
Antilopengang: Oktober in Europa