Am laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Joseph Ponthus
Fantastisch, was sich alles ertragen lässt7
Einleitung
Joseph Ponthus arbeitete zehn Jahre als Sozialarbeiter in einem Pariser Vorort. Da er als Sozialarbeiter keine Anstellung fand, zog er 2015 in die Bretagne. Seine Aufzeichnungen Am laufenden Band erzählen von seiner Arbeit an den Förderbändern in den Fischfabriken und Schlachthöfen.
Ein Prosagedicht
Wer das Buch aufschlägt, denkt im ersten Moment, es liegt ein Lyrikband vor. Ponthus erzählt in freien Versen, in einem Prosagedicht ohne Interpunktion, mit einer einfachen und einfühlsamen Sprache von seiner Arbeit. Diese Form erinnert an berühmte Versepen: Homers Odyssee oder Dantes Göttliche Komödie.
Diese Form bildet die Arbeit am Fließband ab.
Ich schreibe wie ich arbeite, Am Fließband. Am Laufenden Band1
Auf einem Fließband sind die Gegenstände nur für einen flüchtigen Moment zu sehen. Auch der Text läuft für den Leser wie auf einem Förderband vorbei. Kurze Sätze, manchmal nur ein Wort: Kurz, knapp und schnell.
Gedankenstrom
Die Arbeit am Fließband besteht aus einfachen, stupiden und sich schnell wiederholenden Handgriffen. Das Fließband diktiert das Arbeitstempo, und deshalb sind Gespräche mit den Kollegen unmöglich. Porthus ist deshalb während der Arbeit am Fließband tief in seinen Gedanken versunken.
Ich schreibe wie ich denke an meinem Förderband schwirre alleine unbeirrt durch meine Gedanken2
Kurze Gedanken, die schnell von neuen Gedanken abgelöst werden. So entsteht parallel zum Förderband ein Gedankenstrom mit zahlreichen Zitaten aus Büchern, Filmen und Liedern.
Diese Erinnerungen und das Schreiben helfen ihm, die anstrengende, eintönige Arbeit zu überstehen und seine Erschöpfung und körperlichen Schmerzen zu vergessen. Den Dreck und Gestank, das Blut und die Tierkörperreste zu ertragen.
Auf sich alleine gestellt pfeift und singt er während der Arbeit die Lieder französischer Chansonsänger und manchmal Die Internationale. Doch manchmal bleibt wegen des hohen Leistungsdrucks keine Zeit zum Singen.
Die Zeit
Als Zeitarbeiter bekommt er nur befristete Arbeitsverträge und gehört zur industriellen Reservearmee. Ein unsicheres Leben. Als Zeitarbeiter verliert er zuerst seine Arbeit.
Die Fabrik beherrscht sein Leben. Selbst wenn er zu Hause seine Zigarette raucht, steht er in Gedanken am Fließband und kann sich von der Arbeit nicht erholen. Er nimmt die Hektik und den Zeitdruck aus der Fabrik mit. Das Wochenende ist zu kurz. Am Sonntag befällt ihn der Sonntagabendblues6
Es fällt ihm schwer, seinen Körper an die Nachtschichten anzupassen. Er lebt nur in einer Tageszeit: in der Nacht. Die Arbeit beginnt in der Nacht. Am Tag verlängert sich die Nacht mit dem Schlaf und seinen Albträumen, infolge seiner Arbeit im Schlachthof.
In den Arbeitspausen blickt er immer wieder aufs Handy: wie lange dauert noch die Pause. Jede Sekunde ist kostbar, sich dem vorgegebenen Takt der Maschinen nicht unterzuordnen.
Der Job als Zeitarbeitskraft ist eine Notlösung, ein Brotjob. Er besitzt wenig Rechte und genießt ein geringes Ansehen. Die Chefs bewerten täglich seine Arbeitsleistungen mit Eintragungen in ein kleines Heft mit dem harmlosen Titel Integrationsverfolgung eines neuen Mitarbeiters. Diese Bewertungen sind ein Mittel der Einschüchterung, Kontrolle und eine Machtdemonstration des Arbeitgebers.
An seiner Person ist man nicht interessiert, Hauptsache er erledigt die von ihm verlangte Arbeit.
Doch ohne Job kein Geld, und er sehnt sich deshalb auch nach dem schlechten Job in der Fischfabrik, wo die Kälte nur mit mehreren Handschuhen zu ertragen ist. Obwohl es verboten ist, wird er als Leiharbeiter, als Streikbrecher eingesetzt.
Er arbeitet für kurze Zeit in seinem alten Beruf als Sozialarbeiter. Erkennt trotz der unterschiedlichen Tätigkeiten Gemeinsamkeiten.
Hier wie dort Unterordnung und Verkauf meiner Arbeitskraft3
Freude
Und doch erzählt Porthus auch von Winzigkeiten5 der Freuden.
Mit der Fabrikarbeit verliert er seine Panikattacken und braucht keine Psychopharmaka mehr zu schlucken
Die Fabrik hat mich beruhigt wie eine Couch8
In einem liebevollen Brief an seine Mutter erzählt er von seinen Arbeitsbedingungen und seiner Erschöpfung. Sie schickt ihm etwas Geld, damit er am Wochenende nicht arbeitet.
Aber auch das Lachen ist Ponthus nicht vergangen. So absurd wie Beckets Theaterstück Warten auf Godot ist, so absurd sieht Ponthus auch seine Arbeit und kann über seine Arbeit oder über ein Plakat in der Fabrik lachen.
Ponthus verbringt einen glücklichen Tag, weil er keine Mitfahrgelegenheit findet und deshalb eine Schicht versäumt.
Er kann einen Tag zu Hause bleiben, bei seiner Frau und seinem Hund.
Zusammenfassung
Dieses Buch ist eine Kritik an den Arbeitsbedingungen lm Kapitalismus
Joseph Ponthus hat ein faszinierendes Buch über die unwürdigen Arbeitsbedingungen und prekären Arbeitsverhältnisse geschrieben. Mit den Schilderungen der fürchterlichen Arbeitsbedingungen im Schlachthof kann dem Leser der Appetit auf Fleisch vergehen.
Hier lässt sich nachlesen, was es heißt, Arbeiter zu sein: Ein Anhängsel der Maschinen, die den Lebensrhythmus vorschreiben.
Apollinaires Briefzitat, Fantastisch, was sich alles ertragen lässt7, (ein Brief an Madeleine Pages aus den Schützengräben des Ersten Weltkrieges) ist ein Leitmotiv in diesem Buch. Was Ponthus die Zustände ertragen lässt ist die Liebe: die Liebe zur Literatur und Kunst, die Liebe zu seiner Frau und Mutter.
Und trotz alledem die Freude am Leben.
Joseph Ponthuis verstarb 2021 im Alter von 42 Jahren an Krebs.
Popmusik
John Lennon/Plastik Ono Band: Working Class Hero
Der Song Working Class Hero erschien 1970 auf dem Album John Lennon/Plastik Ono Band. Es ist das erste Album von John Lennon nach der Auflösung der Beatles. Das Schlagzeug spielte der ehemalige Beatles Ringo Starr. John Lennon bezeichnete dieses Album als „das Beste, was ich je getan habe”17. Für mich ist das Album musikalisch und textlich ein Meisterwerk.
Es ist ein sehr persönliches Album. Das erste Stück Mother ist ein Klagelied über den Tod seiner Mutter und den Verlust des Vaters. Das Album enthält teilweise „experimentelle“ Stücke. Das Stück Working Class Hero ist eher eine einfache Komposition. Lennon singt und spielt dazu eine akustische Gitarre, und dies erinnert stark an Bob Dylan. Lennon widersprach der Ansicht, Working Class Hero klingt wie Bob Dylan11.
Es gibt von diesem Song zahlreiche Coverversionen. Eine bekannte Coverversion stammt von Marianne Faithfull, erschienen auf ihrem Album Broken English.
Weitere Coverversionen stammen von David Bowie, Marilyn Manson, Ozzy Osbourne und Green Day.
John Lennon der Politaktivist
Lennons politische Überzeugungen waren stark von Gefühlen beeinflusst und dementsprechend betätigte er sich als Provokateur des Establishments. Dazu gehörte auch der Konsum von Drogen. So provozierte Lennon konservative und kirchliche Gruppen mit der Aussage, die Beatles seien populärer als Jesus. Zu diesen Provokationen gehörten auch die Happenings von Lennon und Yoko Ono. Berühmt sind ihre „Sit-Ins“ in Amsterdam und Toronto. Tagelang saßen beide im Bett und diskutierten mit den Journalisten über den Frieden. Bei einer dieser „Bed-in“ wurde der Song Give Peace a Chance, in der Anwesenheit vom LSD-Papst Timothy Leary aufgenommen. Der Song wurde zur Hymne der Hippies und der Friedensbewegung gegen den Vietnamkrieg.
Bereits 1966 kritisierten die Beatles den Vietnamkrieg und Lennon übernahm eine Nebenrolle in Richard Lesters Antikriegsfilm Wie ich den Krieg gewann.
Die Provokationen Lennons waren ein Ausdruck mit den bestehenden Verhältnissen nicht einverstanden zu sein.
Der Vietnam-Krieg, die Bürgerrechtsbewegung in den
USA und die Studentenunruhen politisierte auch Lennon.
Lennon und Yoko Ono suchten den Kontakt zu politischen Gruppen und wurden zu politischen Aktivisten. Im Januar 1971 gab Lennon dem Herausgeber der marxistischen Zeitschrift Red Mole (Roter Maulwurf), Tariq Ali und Robin Blackburn ein Interview13. Am nächsten Tag komponierte Lennon ein neues Lied: Power To The People (Alle Macht dem Volk).
Es bestehen Behauptungen, Lennon habe den marxistischen Trotzkisten und der nordirischen IRA hohe Geldsummen gespendet14.
Wegen seiner Kontakte zu den britischen Trotzkisten wurde Lennon vom britischen Geheimdienst überwacht, der seine Ermittlungsergebnisse an den amerikanischen FBI weiterleitete15.
So ging die Bespitzelung Lennons nach seinem Umzug 1971 nach New York durch den FBI weiter, da Lennon sich auch in den USA weiterhin politisch engagierte16. FBI Chef Hoover schrieb ans Weiße Haus, Lennon habe Kontakt zu linken Gegnern der Republikaner und konsumiere Drogen. Ziel dieser Überwachung war die Ausweisung Lennons aus den USA14.
Nach der Wiederwahl Nixons zog sich Lennon desillusioniert ins Privatleben zurück. In Erinnerung bleibt John Lennon weniger als politischer Aktivist, sondern als einer der größten Komponisten und Sänger der Musikgeschichte.
Working Class Hero
Working Class Hero ist ein zorniges Lied und die erste Zeile beschreibt die gesellschaftliche Wirklichkeit. Falls Menschen in einer bestimmten Gruppe aufwachsen, genießen sie automatisch ein geringes Ansehen und erleben persönlich eine geringe Wertschätzung.
As soon as you’re born, they make you feel small9
Dieser Bedeutungslosigkeit, die man den Menschen aus der Arbeiterklasse einredet, widerspricht das Lied. Es stärkt das Selbstbewusstsein der Menschen aus der Arbeiterklasse und erklärt sie sogar zu Helden, denn der Refrain lautet.
A working class hero is something to be 9
Auf Deutsch:
Ein Held der Arbeiterklasse ist etwas von Bedeutung10
In dem Song gibt es zwei umstrittene Zeilen mit dem Wort fucking.
But you’re still fucking peasants as far as I can see9
Auf Deutsch:
Aber ihr seid immer noch Scheißleibeigene, soweit ich sehen kann10
Die Bezeichnung fucking peasants ist eine Kritik an der Oberschicht, wie sie die Unterschicht wahrnimmt.
Die zweite Zeile ruft zum Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse auf.
Til you’re so fucking crazy you can’t follow their rules9
Auf Deutsch:
Bis du so verdammt verrückt wirst, dass du ihre Regeln nicht mehr befolgen kannst10
Der Leiter eines Studentensenders drohte nach dem Spielen des Songs eine Gefängnisstrafe und ein Bußgeld von 10000 Dollar12, wegen dieser beiden Textzeilen.
Das Wort fucking bereitete auch Lennons Plattenlabel EMI einiges Unbehagen. Das Wort wurde nicht im Booklet gedruckt und durch ein Sternchen ersetzt. Lennon fügte aber die Worte „Ausgelassen auf Drängen von EMI“ dazu11.
(In dem Booklet zu meiner CD ist fucking ausgeschrieben)
Der Song endet mit der ironischen Zeile
If you want to be a hero, well, just follow me9
Joseph Ponthus. Am Laufenden Band. Aufzeichnungen aus der Fabrik. Verlag Matthes & Seitz Berlin. Aus dem Französischen von Mira Lina Simon und Claudia Hamm.
1) S.12
2) S.12
3) S.29
4) S.42
5) S.173
6) S.220
7) Guillaume Apollinaire (Brief an Madeleine Pages,
30.November 1915)
8.) S.184
9.) Booklet zu der CD John Lennon/Plastik Ono Band
10.) Wikipedia. Abgerufen am 09.April 2022.
11.) The Beatles Bible. Working Class Hero. Last Updated: 08.November 2021. Abgerufen am 10.April 2022.
12.) Radio Free Georgetown. Guy Raz. 29.Januar 1999. Abgerufen am 22.April 2022
13) John Lennon Interview: Red Mole, 1/21/1971. Abgerufen am 12.April 2022.
14) Der Spiegel 9/2000 27.02.2000. Abgerufen am 12.April 2022
15) Die Enthüllungen über John Lennon. David North. 03.März 2020. Abgerufen am 12.April 2022
16) Power to the people! John Lennon und die Revolution. Abgerufen am 12.Apri 2012.
17) Zum 50. Jubiläum: „John Lennon/Plastic Ono Band“ erscheint als umfangreiches Boxset. Rolling Stone 05.03.2021.