Foto: Udo Weier

Upton Sinclair. Der Dschungel

Einleitung

Während der Corona Pandemie erfuhr die Öffentlichkeit von den Werksverträgen und den prekären Arbeitsbedingungen der rumänischen und bulgarischen Leiharbeiter im Unternehmen Tönnies. Untergebracht wurden die Menschen teilweise zu dritt in engen Sammelunterkünften. Die Miete wurde direkt vom Gehalt abgezogen.5
Nach steigenden Infektionszahlen in Rheda-Wiedenbrück, dem Standort der Firma Tönnies, benannte NRW Ministerpräsident Achim Laschet die Ursachen, verbunden mit einer indirekten Schuldzuweisung an die Leiharbeiter.

Weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt. Das wird überall passieren. (…) Das hat nichts mit Lockerungen zu tun, sondern mit der Unterbringung von Menschen in Unterkünften und Arbeitsbedingungen in Betrieben.6

Was Laschet nicht erwähnte: Es handelt sich um ausbeuterische Arbeitsbedingungen und prekäre Wohnsituationen, die die Landesregierung tolerierte.
Was hat all das mit diesem Roman zu tun? Der 1905 (!) erschiene Roman Der Dschungel von Upton Sinclair erzählt auch von osteuropäischen Arbeitsemigranten, die in Chicago in der Fleischindustrie arbeiten.

Hoffnung

Der Roman beginnt mit einer Hochzeitsfeier in einem Vereinslokal in Chicago. Es ist die Hochzeit von Ona und Jurgis. Beide sind wie auch die Hochzeitsgäste aus Litauen eingewandert und arbeiten in den Fleischfabriken Chicagos. Sie glauben, wie viele Einwanderer an eine bessere Zukunft, sie glauben an Amerika, das Land von Freiheit und Wohlstand und an das Glücksversprechen der amerikanischen Verfassung.
Nach der Einwanderung sind sie zunächst ziemlich hilflos in der riesigen Stadt und werden finanziell ausgenommen.
Doch Jurgis ist naiv und optimistisch, denn er bekommt sofort einen Job in der Fleischfabrik, und er kann sich nicht vorstellen, als körperlich starker Mann jemals ohne Arbeit zu sein. Sein Lebensmotto lautet, falls es Schwierigkeiten gibt:

Ich werde eben mehr arbeiten2

Jurgis ist begeistert, wie perfekt das Schlachten der Tiere organisiert ist und empfindet Stolz, Teil dieser Organisation zu sein.
Sinclair beschreibt detailliert das Schlachten der Schweine und Rinder und zeigt sein Mitgefühl mit dem Leid der Tiere.

In Boxen wurden die Rinder von den „Betäubern“ mit riesigen Hämmern mit einem Schlag auf den Kopf getötet. 
Dann wurden die Rinder an einem Fuß aufgehängt.
Durch einen Stich ins Herz wurde die Tiere zum Entbluten gebracht.
Mit wenigen Schnitten wird der Kopf abgetrennt.
Dann wird dem Rind die Haut abgezogen.7

Das Schlachten der Tiere ist Fließbandarbeit. Jeder Arbeiter macht nur einen Handgriff, und die Arbeit erinnert an den Zusammenbau eines Autos am Fließband, nur das im Schlachthof die Arbeitsschritte in umgekehrter Richtung ablaufen.

Die Hölle auf Erden

Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren!.3

Die Arbeitsemigranten leben in einem ärmlichen und öden Stadtteil. Die Luft ist erfüllt vom Gestank der Fleischfabriken und dem Geräusch von Tausenden Rindern und Schweinen, die zu den Schlachthöfen transportiert werden. Die Häuser stehen auf ehemaligen Lehmgruben, die mit Müll gefühlt werden! Schnell spürt Jurgis die kapitalistischen Arbeitsbedingungen am eigenen Leib und ist doch überrascht zu hören, dass Arbeiter Rechte besitzen und sich in Gewerkschaften organisieren.
Er zweifelt immer mehr am schönen Schein der Fleischfabriken. Er sieht Korruption, denn nur mit Bestechung bekommt man einen Job. Es ist ein Krieg aller gegen alle. Die Fleischfabriken sind ein Dschungel, in dem nur derjenige überlebt, der sich am besten anpasst.
Die Familie lebt von der Hand in den Mund. Um über die Runden zu kommen, müssen auch die Kinder mitarbeiten. Nach einem Arbeitsunfall zweifelt Jurgis an seinem Lebensmotto. Aus Optimismus wird Resignation, und Jurgis fürchtet sich davor, auf der Straße zu leben und zu verhungern. Die Arbeit macht die gesamte Familie kaputt und sie vegetieren nur noch so vor sich hin.
Die Fabrikbesitzer wollen aus den Rindern und Schweinen maximalen Profit herausholen. Das gesamte Schwein wird verarbeitet

bloß für das Quieken hat man noch keine Verwendung gefunden1

Foto:Udo Weier

Ebenso holen sie aus den Arbeitern den maximalen Profit heraus. Arbeitskräfte gibt es wie Sand am Meer, deswegen werden die Arbeitskräfte ausgebeutet, bis sie körperlich am Ende sind oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten können.
Jurgis Frau wird zusätzlich noch sexuell ausgebeutet. Mit der Drohung, sie und alle anderen Familienmitglieder werden ihren Job verlieren, wird sie zur Prostitution gezwungen.

Jurgis wird zum Egoisten

Jurgis verprügelt den Vorgesetzten, der Ona zur Prostitution zwang und wird in einem Schnellverfahren zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt. Bisher erlebten wir einen sozialen Jurgis, bei dem seine Familie seinen Lebensmittelpunkt bildete. Mehrere Schicksalsschläge verändern seine Einstellung (sie verlieren das Haus, seine Frau und Sohn sterben). Durch diese Ereignisse wird Jurgis kühl und abgeklärt und will nur noch für seinen eigenen Vorteil arbeiten.
Er wird zum Tramp und kommt mit Gelegenheitsjob über die Runden. Nach seiner Rückkehr nach Chicago trifft er seinen alten Gefängnisgenossen Jack Duane wieder und gleitet ins kriminelle Milieu ab.
Sinclair beschreibt die Korruption in Chicago. Die enge Verbindung zwischen Halbwelt, Politik, Stadtverwaltung und Polizei. Zu diesem Korruptionsgeflecht gehören auch die Republikanische und Demokratische Partei.
Jurgis profitiert finanziell von der Korruption und wird als Streikbrecher zum Vorarbeiter befördert. Seine Glückssträhne hält jedoch nur kurz an.
Er bekommt Kontakt zur sozialistischen Partei und begeistert sich für deren Ideale und Ziele. Er versteht jetzt besser die politischen und ökonomischen Zusammenhänge, die auch für sein schlechtes Leben verantwortlich sind.
Sinclair schrieb 1904 einen Aufruf an die streikenden Arbeiter in den Fleischfabriken die sozialistische Partei zu wählen. So lesen sich die letzten 40 Seiten sehr zähflüssig wie ein politisches Parteiprogramm.

Zusammenfassung

Jurgis durchläuft verschiedene Entwicklungen. Zu Anfang ist sein Optimismus grenzenlos. Doch die Enttäuschungen lösen den Optimismus ab. Die Arbeit macht ihn kaputt und er sieht, dass er auf keinen grünen Zweig kommt. Nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes zerbricht seine Familie. Sinclair zeigt, wie durch veränderte Lebensumstellungen Jurgis sein Leben radikal verändert und eine egoistische Lebenseinstellung übernimmt. Auch mit seinem Abgleiten ins kriminelle Milieu kommt Jurgis nicht auf den grünen Zweig.
Alle seine Lebenskonzepte sind gescheitert. Sinclair bietet eine letzte Lösung und Hoffnung an. Der Eintritt in eine politische Partei (Sozialistische Partei). Um die Wirtschaftsverhältnisse zu verändern und damit ein besseres Leben für alle Arbeiter zu erreichen.
Sinclair recherchierte nach einem Streik in den Fleischfabriken über die Arbeitsbedingungen und katastrophalen Hygienebedingungen. Aus diesen Recherchen entwickelte Sinclair einen Roman. Er beschreibt detailliert die Arbeitsbedingungen in den Fleischfabriken und die katastrophalen Hygienezustände. Der Roman ist geprägt von einem journalistischen Schreibstil und in sachlichen Ton geschrieben.
Dieser Roman führte zu konkreten Veränderungen in der Fleischindustrie. Aber nicht, wie sich Sinclair das wünschte.

Upton Sinclair. Der Dschungel. Aus dem Amerikanischen von Otto Willkür. Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Dieter Herms. März bei Zweitausendeins. 3. Auflage, Mai 1981.

Ich zielte auf die Herzen, und zufällig traf ich ihre Mägen.4

Zwar wurden die Hygienevorschriften in der Fleischindustrie verschärft, aber an den unmenschlichen Arbeits-, Sicherheitsbedingungen und Lebenssituation der Arbeiter änderte sich nichts. Sinclairs Roman gehört zu den Klassikern der Arbeiterliteratur und sozialen Reportage. 
Wie aktuell ist dieser Roman im Jahr 2022, denn seit 1905 wurden die Arbeitsstandards angehoben?
Anfang des letzten Jahrhunderts waren die Fleischtrusts in Chicago der größte Industriezweig. Wegen ihrer Größe und ihrer Macht diktieren sie den Arbeitern die Arbeitsbedingungen und den Politikern die Gesetze. 
Mit der Globalisierung wurden nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch niedrigere Arbeitsstandards exportiert. Heute besteht eine ähnliche Situation in Bangladesch wie anfangs des letzten Jahrhunderts in Chicago. Die Textilindustrie ist der wichtigste Wirtschaftszweig in Bangladesch und das führt zu einem enormen Einfluss der Textilindustrie.
Wegen der geringen Arbeitsstandards stürzte 2013 in Bangladesch eine Textilfabrik ein (Rana Plaza). Es starben mehr als 1000 Menschen. Tage vor dem Unglück wurden Risse im Gebäude entdeckt und trotzdem wurden die Arbeiter gezwungen weiterzuarbeiten. Baurichtlinien wurden bewusst missachtet.
Zwar wurden nach dieser Katastrophe die Sicherheitsvorschriften verschärft. Auf der anderen Seite erhöht die internationale Textilindustrie den Druck auf die Fabriken in Bangladesch kostengünstig zu produzieren, und Bangladesch muss unbedingt seinen Standortvorteil verteidigen: billige Arbeitskräfte.
Solange weltweit noch unmenschliche Arbeitsbedingung und und Lebenssituationen bestehen, bleibt Sinclairs Roman aktuell.

Popmusik – Chicago, der Geburtsort der House Music

Frankie Knuckles – Your Love

House Music ist eine elektronische Tanzmusik und ein Vorläufer der Technomusik. Der Name stammt vom Warehouse Club in Chicago. Hier spielte Frankie Knuckles zum ersten Mal dieser Musikrichtung. Knuckles erstellte u. a. Remixe für Michael Jackson und die Pet Shop Boys. Er verstarb 2014 an Diabetes.
Die Ursprünge der House Music liegen in der Discomusik. Knuckles mixte Rhythmus betonte Instrumentalteile, zu denen die Besucher begeistert tanzten. Für Knuckles ist die Band Kraftwerk entscheidend für die Entstehung der House Music, denn zusätzlich mixte er Elektrobeats der Gruppe Kraftwerk und anderer europäischer Elektronikbands zu seinen Instrumentalstücken. House Music ist sehr basslastig und war die Musik der Schwarzen (Gay) Community. Nach dem Ende der Discowelle wurde House Music die Tanzmusik in den Diskotheken.

Upton Sinclair. Der Dschungel. Aus dem Amerikanischen von Otto Willkür. Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Dieter Herms. März bei Zweitausendeins. 3. Auflage, Mai 1981.
1) ebd. S. 49
2) ebd. S. 27
3) Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie. Insel Taschenbuch 94. S.23
4) Upton Sinclair. Der Dschungel. Aus dem Amerikanischen von Otto Willkür. Werke in Einzelausgaben. Herausgegeben von Dieter Herms. März bei Zweitausendeins. 3. Auflage, Mai 1981. S. 481
7) ebd. S. 51 ff
5) Das Elend der Tönnies-Arbeiter: Krank zur Arbeit und 200 Stunden für knapp 1200 Euro Netto-Lohn. Redaktionsnetzwerk Deutschland. 23.06.2020. Abgerufen am 22. Juli 2022
6) Nach Corona-Ausbruch bei „Tönnies“: Laschet irritiert mit Aussagen über „Rumänen und Bulgaren“. Stern. 18.06.2020. Abgerufen am 23. Juli 2022

Anmerkung
Am 1. Mai 1886 streikten 400000 Arbeiter in den USA für den 8 Stunden Tag. Allein in Chicago streikten 80000 Arbeiter friedlich für die Reduzierung der Arbeitszeit von 12 auf 8 Stunden Tag. Am 3. Mai griff die Polizei Streikposten an, und tötete 6 Arbeiter.
Gegen diese Gewalt der Polizei demonstrierten die Arbeiter auf dem Haymarket. Nach dem Ende der Demonstration waren nur noch wenige Teilnehmer anwesend. Es trafen  Polizisten ein und plötzlich wurde eine Bombe gezündet. In der Panik schossen die Polizisten wild um sich. Wahrscheinlich sieben Polizisten und vier Demonstranten wurden getötet. Wer die Bombe zündete, ist bis heute nicht geklärt. Trotzdem wurden sieben Mitorganisatoren der Demonstration für schuldig erklärt und angeklagt. Obwohl keine Beweise für die Täterschaft der Angeklagten vorlagen, wurden vier Angeklagte zum Tode verurteilt. Dieses Urteil wurde zu einem der berühmtesten Justizmorde der USA.
Auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationale wurden zum Andenken an das Haymarket Massaker der 1. Mai zum Kampftag der Arbeiter ausgerufen. 

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