Oldtimertreffen auf der Mühlenweide in Duisburg. Foto: Udo Weier, 2022.

Wolfgang Herrndorf. Tschick

Einleitung

Der Schriftsteller und Illustrator Wolfgang Herrndorf wurde 1965 in Hamburg geboren. 2010 wurde bei ihm ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert. Trotz seiner Erkrankung schrieb Herrndorf weiter. In seinem Blog Arbeit und Struktur berichtete er über sein Leben mit dem tödlichen Tumor. Diese Blogtexte liegen auch als Buch vor. Am 26. August 2013 erschoss sich Herrndorf mit einem Revolver.1
Sein größter schriftstellerische Erfolg ist der Roman Tschick, der über ein Jahr auf den deutschen Bestsellerlisten stand. 2016 verfilmte Fatih Akin diesen Roman.

14-Jähriger flüchtet mit Tempo 170 im Auto seines Großvaters vor der Polizei
Die bayerische Polizei hat einen Jugendlichen auf der Autobahn gestoppt. Den Beamten zufolge wollte er mit dem von seinem Großvater gestohlenen Wagen einen Freund besuchen.2

Inhaltsangabe

Als Erstes ist da der Geruch von Blut und Kaffee.3

Wolfgang Herrndorf. Tschick. Rowohlt. Berlin

Mit diesem starken Satz beginnt der Roman, der zum Weiterlesen verführt.
Der vierzehnjährige Maik Klingenberg ist auf einer Wache der Autobahnpolizei. Er empfindet seinen Zustand als unreal und fühlt sich eher als Mitwirkender in einer Fernsehserie. Als er seine Verletzung erblickt, fällt er in Ohnmacht und wird in ein Krankenhaus eingeliefert. Nach seiner Entlassung erzählt Maik Klingenberg rückblickend, wie es zu seiner Verletzung kam.
Zunächst erfährt der Leser etwas über seinen sozialen Hintergrund. Sein Vater ist Bauunternehmer, der kurz vor der Insolvenz steht. Die regelmäßigen Besuche seiner Mutter in einer Entzugsklinik für Alkoholiker werden getarnt als Besuche auf einer „Beautyfarm“. Insgesamt wird Maik von seinen Eltern vernachlässigt. Wer jetzt befürchtet, hier wird ein typisches Sozialdrama erzählt, den kann ich beruhigen, das ist nicht der Fall. 
Maik ist in Tanja verliebt. Er versucht ihr beim Sport zu imponieren. Hat aber nicht die geringsten Chancen, bei ihr zu landen. In seiner Klasse gilt Maik als Langweiler und Außenseiter.
Dann kommt Tschik in seine Klasse. Sein richtiger Name ist Andrej Tschischaroff, ein Russlanddeutscher aus Sibirien. Er schaffte es direkt von der Förderschule auf das Gymnasium. Kommt manchmal besoffen in die Schule, und je nach seinem Zustand schreibt er in Mathematik eine zwei oder fünf. Er lässt sich von den autoritären Lehrern sowie von seinen Mitschülern nicht einschüchtern. Im Deutschunterricht liefert er eine herrliche Interpretation von Brechts Geschichte Herr K.
Wie Maik wird auch Tschick in der Klasse zum Außenseiter. Ideale Voraussetzungen für eine Freundschaft.
Die Sommerferien beginnen deprimierend für Maik. Sein Vater verschwindet mir seiner Geliebten. Seine Mutter besucht erneut die Entzugsklinik. Doch dann trifft er zufälligerweise Tschik und für beide beginnt ein Abenteuer.
Tschick bricht einen Lada Niva auf eine Schrottkarre und „leiht“ sich das Auto aus. Mit dem Lada will Tschick bis in die Walachei (Rumänien) fahren, um Verwandte zu besuchen. Sie fahren einfach los ohne Orientierung und nach Gefühl in Richtung Süden. Beide sind minderjährig!
Der Fahrt der beiden ist verrückt. „Verrückt“ sind auch die Menschen, denen sie unterwegs begegnen.
Das Mädchen Isa treffen sie auf einer Mülldeponie und sie hilft beiden Benzin aus einem anderen Auto zu klauen. Sie werden freundlich von einer Frau zum Mittagessen eingeladen, bei der das Kind den größten Nachtisch bekommt, das eine Quizfrage am schnellsten beantwortet.
Sie fahren durch eine surreale Landschaft und begegnen einem schießwütigen Mann, der ihnen seine absurde Lebensgeschichte erzählt.
Wie man sich denken kann, erreichen die beiden nicht die Walachei. Sie stürzen mit ihrem Lada einen Abhang hinunter. Werden aber nur leicht verletzt. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus „reisen“ sie mit der noch fahrtüchtigen „Schrottkarre“ weiter. Nach einem fast tödlichen Unfall auf der Autobahn endet endgültig ihre Autofahrt. Die anschließende Gerichtsverhandlung verläuft für beide glimpflich. Maik wird zur Ableistung von Sozialstunden verurteilt, und Tschick wird in ein Jugendheim eingewiesen.

Zusammenfassung

Am faszinierenden an diesem Roman ist die Sprache. Herrndorf verwendet die Sprache eines Jugendlichen, die nicht künstlich klingt. Der Leser bekommt den Eindruck, der vierzehnjährige Maik Klingenberg und nicht Wolfgang Herrndorf ist der Verfasser des Textes.
Die Geschichte der beiden Ausreißer ist als Rahmenhandlung schon verrückt genug, doch innerhalb dieser Rahmenhandlung erzählt Herrndorf weitere „verrückte“ Geschichten von „verrückten“ Menschen.
Der Roman erzählt von einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei Jungen und erinnert an den berühmten Roman von Mark Twain, Tom Sawyer und Huckleberry Finn. In Mark Twains Roman entsteht eine Freundschaft zwischen Tom Sawyer, der aus „geordneten“ Familienverhältnissen stammt, und dem gesellschaftlich geächteten Huckleberry Finn. Diese Konstellation findet der Leser in Herrndorfs Roman wieder. In Mark Twains Roman nutzt Huckleberry Finn zusammen mit dem Sklaven Jim ein Floß zur Flucht.
Herrndorfs Roman ist ein „literarisches Roadmovie“. Tschick und Maik fliehen mit dem Auto vor der Welt der Erwachsenen, um Glück und Freiheit zu finden.
Beide empfinden sie sich vor der „Reise“ als Außenseiter. Während ihrer „Reise“ erleben beide zum ersten Mal das Gefühl von Freundschaft und Gemeinschaft. Das gegenseitige Vertrauen wird so stark, dass Tschick Maik seine Homosexualität gesteht.
Gleichzeitig deutet sich ein Ende der unbeschwerten Jugendzeit an und der baldige Übergang ins Erwachsenenalter. Als Maik alte Menschen sieht, denkt er zum ersten Mal über das älter werden und seine eigene Zukunft nach.
Fazit: Es ist ein riesiger Spaß, diesen Roman zu lesen.

Popmusik: Kraftklub featuring Tokio Hotel. Komm fahr mit mir im 4×4

Maik und Tschick fahren mit einem Lada Niva. Niva bedeutet „Feld“  bzw. Acker. Hersteller dieses Geländewagens mit Allradantrieb ist der russische PKW Produzent AwtoWAS.  Die Produktionsstätten sind in Toljatti, an der Wolga. Produziert wird der Niva seit 1976. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ging die Beteiligung Renaults an der AwtoWAS in russische Staatsbeteiligung über. Seit dem Krieg wird wegen fehlender Komponenten eine abgespeckte Version des Lada Niva produziert.4

Der Song Komm fahr mit mir im 4×4 ist ein „musikalisches Roadmovie“, der Motive aus Roadmovies übernimmt, und es ist ein Song über den Lada Niva.
In einem Roadmovie verlassen die Helden ihre Heimat aus vielerlei Gründen. Auch in dem Song wird am Anfang klar, warum man flieht.

Es tut mir leid
Etwas mit Heimatministerium kann für mich keine Heimat sein
Ich kann nicht bleiben
Es ist zu spät, steig mit ein, wenn es dir genauso geht

Komm, fahr mit mir (Lada Niva) im Vier-mal-vier (Lada Niva)
Tausendsechshundert, Wald- und Wiesen-Pionier (Lada Niva)
Komm, fahr mit mir (Lada Niva) im Vier-mal-vier (Lada Niva)
Spargelfelder zieh’n vorüber, wenn ich geh, komm ich nicht wieder

Rasen gemäht, getrennter Müll
Zwölf Jahre Ehe, Blumenbeet und Weber-Grill
Wie sie da steh’n, so gut gelaunt
Schau, wie sie beten, dass wir einen Unfall bau’n5

Es ist die Flucht vor der deutschen Spießigkeit, Ignoranz und Überheblichkeit. Ein Roadtrip ist für die Protagonisten ein Abenteuer, denn es ist eine Fahrt ins Ungewisse.

Sie sind so klein, schon so klein am Horizont
Wir fahren weiter, immer weiter, bin gespannt, was noch so kommt
Weiß nicht, wohin es uns treibt
Doch keine Eile, weil wir beide haben Ewigkeiten Zeit5

In einem Roadmovie möchten die Helden ihre Utopie verwirklichen und suchen einen besseren Ort und ein besseres Leben.

Doch irgendwann ist da eine Gegend
In der keine Fahnen in den Kleingartenanlagen wehen
Keine Regeln, Strafen und Gesetze
Außer so zu leben, dass Franz Josef Wagner was dagegen hätte5
(Franz Josef Wagner ist Kolumnist der Bildzeitung)

Die Zusammenarbeit zwischen Kraftklub und der Teen Band Tokio Hotel ist durchaus überraschend, wenn auch beide Bands aus den neuen Bundesländern stammen: Kraftklub aus Chemnitz und Tokio Hotel aus Magdeburg.
Ist diese Zusammenarbeit geglückt?
Der Song ist eine Mischung aus Pop und harten Gitarrenrock, und zu diesem harten Gitarrenrock klingt die Stimme von Bill Kaulitz einfach zu hoch. Der Song ist ein Ohrwurm, bei dem jeder den Refrain mitsingen kann.

1) Tagebuch über den Prozess des Sterbens. Deutschlandfunk. Von Ralph Gerstenberg. 19.12.2013.  Abgerufen am 25. Oktober 2022.
2) 14-Jähriger flüchtet mit Tempo 170 im Auto seines Großvaters vor der Polizei. Der Spiegel. 30.12.2021, 13.39 Uhr. Abgerufen am 25. Oktober 2022
3.) Wolfgang Herrndorf. Tschick. 6. Auflage Dezember 2010. Rowohlt. Berlin.
3) S. 7
4)  AwtoWAS. Wikipedia. Abgerufen am 26. Oktober 2022.
5) Booklet zu der CD Kargo

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