Sven Pfizenmaier. Draußen feiern die Leute.
Menschen fliehen aus ihren Lebenswelten, weil sie sich als Fremde fühlen.
Einleitung
2021 wurde Sven Pfizenmaier mit sieben weiteren Autoren für den Klaus-Michael Kühne Preis nominiert. Ein mit 10000 Euro dotierter Literaturpreis für Debütromane. Ende August 2021 zog Pfizenmaier seine Nominierung zurück, weil der Namensgeber des Debütpreises, Klaus Michael Kühne, nicht bereit war, die NS-Unternehmensgeschichte des Logistikkonzerns Kühne + Nagel aufzuarbeiten.5
Die Eltern des Schriftstellers Sven Pfizenmaier sind Russlanddeutsche und stammen aus Kasachstan. Er selber wurde 1991 in einem Dorf in Niedersachsen geboren. Russlanddeutsche sind die Hauptpersonen und ein Dorf in Niedersachsen ist der Schauplatz eines anderen Dorfromans. Dieser Roman weckte mein Interesse, weil auch ich in einem Dorf in Niedersachsen aufwuchs.
Inhalt
Pfizenmaier beschreibt kein idyllisches Dorfleben. Ein Dorf, das städtischer, moderner geworden ist, denn die Einwohner reagieren auf das Verschwinden des Mädchens Flora mit Gleichgültigkeit. Andererseits leben die Menschen noch in der Vergangenheit. Der Hindenburgplatz wurde noch nicht umbenannt, obwohl Hindenburg für eine militaristische und antidemokratische Tradition steht. Aus der nahe gelegenen Großstadt beschaffen sich die Jugendlichen Gras und andere Aufputschmittel, die sie auf dem dörflichen Zwiebelfest konsumieren. Das traditionelle Zwiebelfest ist noch immer der „kulturelle“ Höhepunkt des Dorfes.
Ein Motiv in diesem Roman ist die Flucht von Menschen aus ihren gewohnten Lebensverhältnissen, und die Figuren in diesem Roman finden verschiedene Fluchtwege.
Valeries Eltern sind Russlanddeutsche und verlassen Kasachstan. Nach der Auswanderung leben sie isoliert im Dorf und sie haben
ihre frühere Welt konserviert und in diesem Haus wieder aufgebaut1
um das Gefühl von „Zuhause“ zu gewinnen. Valerie verliert mit dem Wechsel der Sprache ihre Identität. Sie spricht als Kind nur deutsch. Dies ist ihrer Mutter peinlich, und deshalb unterrichtet sie Valerie in Deutsch. Nach dem Besuch im Kindergarten erklärt sie ihrer geschockten Mutter, sie werde in Zukunft nur noch deutsch sprechen, um als „Deutsche“ anerkannt zu werden. Die Verwandten lachen über Valerie, weil sie russisch mit deutschem Akzent spricht. Valeries Flucht ist ihre Schlafsucht. Sie schläft tagelang, denn
Die Träume beharren darauf, ihre Geschichte bis zum Ende erzählen zu dürfen, und erst dann lassen sie Valerie gehen.2
Richard ist ein Langweiler, sobald er sich Menschen nähert, verfallen sie in eine sofortige Lethargie. Er flieht mit Drogen, Speed und Amphetaminen aus der Wirklichkeit, um die ablehnenden Reaktionen seiner Mitmenschen nicht zu ertragen. Um das Gefühl zu bekommen, „er gehört dazu“, versetzt er die Bowle auf seiner Party mit Speed. Dies versetzt seine Gäste in Euphorie und plötzlich sind alle von Richard und seiner Party begeistert.
Das Verschwinden von Menschen aus ihren Lebenswelten wird zu einem Massenphänomen. Aus verschiedenen Städten verschwinden Menschen beiderlei Geschlechts und sind unauffindbar. Die Menschen scheinen freiwillig unterzutauchen, weil sie es in dieser Welt nicht aushalten. Aus dem Dorf ist Flora verschwunden. In ihren Tagebucheintragungen tauchen zwei geheimnisvolle Namen auf: Rasputin und Martha. Rasputin, ein geheimnisvoller Drogendealer, so geheimnisvoll wie der Rasputin am Zarenhof, über den die Einwohner des Dorfes sich fantastische Geschichten erzählen. Mit Rasputin enthält der Roman die Motive eines Krimis und fantastische Inhalte, denn Rasputin ist eine Person nicht von dieser Welt. Von dieser Stelle an wird der Roman Leser verlieren, weil dieser Teil ist zu surreal. Rasputin erinnert an einen Sektenführer, der junge Menschen für seine eigenen Vorteile ausnutzt.
Zusammenfassung
Pfizenmaier beschreibt seine Figuren mit viel Witz und Humor. Nimmt aber die Probleme seiner Figuren ernst und gibt sie nicht der Lächerlichkeit preis. Ein Dorfroman mit Elementen einer Sozialstudie und mit Motiven eines fantastischen- und eines Kriminalromans.
Das Dorf steht für einen Ort, der Menschen in ihrem Leben einengt. Für die Einwohner ist das zukünftige Leben vorgezeichnet. Veränderungen sind nicht eingeplant und auch das Anderssein von Menschen wird nicht akzeptiert. Als Kontrast zu den fest gefügten Verhältnissen erzählt der Roman von Jugendlichen und überzeichnet deren physischen und psychischen Eigenschaften. (Schlafsucht, den Körper einer Pflanze, Drogenkonsum) mit denen sie als Außenseiter gegen die betonierten Zustände rebellieren. Und doch möchten sie auch dazugehören
Und ich mag nicht mehr an einem Ort sein, an dem kein wir mich mitmeint.3
Also träumen die Jugendlichen von einer Utopie, von einem besseren Ort, wo sie dazugehören und sich nicht gleichzeitig eingeengt fühlen
Es gibt da keinen Boden und keine Heimat, die dauerhafte Bewegung an sich ist es, die Geborgenheit gibt.4
Es ist ein bemerkenswerter Debütroman, und ich bin gespannt auf den nächsten Roman von Sven Pfizenmaier.
Popmusik: Bronski Beat. Smalltown Boy
Bronski Beat waren eine Popband der 80er-Jahre mit einem tanzbaren elektronischen Sound. Die ehemaligen Mitglieder, der Keyboarder Larry Steinbachek und der Namensgeber der Band Steve Bronski, verstarben 2016 bzw. 2021. Der Sänger Jimmy Somerville verließ bereits 1985 Bronski Beat.
1984 erschien die Single Smalltown Boy. Auch von diesem Song gibt es zahlreiche Coverversionen ( Paradies Lost, Oomph! (Kleinstadtboy).
Der Roman Draußen feiern die Leute erzählt von Jugendlichen, die sich in ihrer Umgebung als Fremde fühlen. Auch der Song Smalltown Boy erzählt von einem Jugendlichen, der sich in seiner Stadt nicht mehr wohl fühlt. In diesem Fall ist es ein Junge, der sich als homosexuell outet. Diese Story hat autobiografische Züge von Jimmy Somerville, der Ruchill, einen kleinen Vorort von Glasgow wegen seiner Homosexualität verließ. Die Mitglieder von Bronski Beat Bekannten sich offen zu ihrer Homosexualität. Zum Beginn der 80er-Jahre noch eine kleine Sensation.
Das Video visualisiert den Songtext. Jimmy Somerville spielt die Hauptrolle. In einem Zug schaut er nachdenklich aus einem Zug und erinnert sich an seine Jugend. Er wird gemobbt und verprügelt wegen seiner Homosexualität. Zum Abschied umarmt ihn die Mutter. Der Vater gibt ihm Geld. Verweigert zum Abschied jedoch den Handschlag.
Der Song erschien 1984 auf der LP Age of Consent. 1984 hatten viele europäische Länder das Schutzalter (Age of Consent) für einvernehmliche homosexuelle Handlungen reduziert. In Großbritannien galt weiterhin das 21. Lebensjahr.
Der Song lebt von der eindringlichen und hohen Stimme Jimmy Somervilles. Ein Klagelied und doch eroberte dieser Song weltweit die Tanzflächen
You leave in the morning with everything you own in a little black case,
Alone on a platform, the wind and the rain on a sad and lonely face
Pushed around and kicked around, always a lonely boy,
You were the one that they’d talk about
Around town as they put you down6
Sven Pfizenmaier. Draußen feiern die Leute. 2022 Kein & Aber AG Zürich – Berlin.
1) ebenda S. 49
2) ebenda S. 25
3) ebenda S. 209
4) ebenda S. 211
5) Untiefen. Das Stadtmagazin gegen Hamburg. Das Stadtmagazin gegen Hamburg. Chronik eines Eklats. Abgerufen am 20. Januar 2023.
6) Songtexte.com. Smalltown Boy. Songtext von Bronski Beat. Abgerufen am 21. Januar 2023