Foto: Udo Weier

Gayl Jones. Corredigora

Einleitung

Gayl Jones veröffentlichte diesen Roman 1975 mit 25 Jahren über eine fiktive Bluessängerin bei Penguin Books. Ihre Lektorin war die spätere Literaturnobelpreisträgerin Tori Morrison. Heute lebt Gayl Jones zurückgezogen in Kentucky.

Inhalt

Der Roman wird aus der Perspektive der fiktiven Bluessängerin Ursa Corregidora erzählt. Sie heiratet 1947 den eifersüchtigen Mutt. Er will ihr verbieten, in Clubs zu singen. Nach seinen Vorstellungen versorgt ein Mann eine Familie. Diese Vorstellungen decken sich nicht mit der Selbständigkeit von Ursa. Sie wehrt sich gegen das Besitzdenken Mutts

Gehörst du mir, Ursa, oder denen?2

Emanzipation im weitesten Sinne, (sexuelle) Gewalt und das Verarbeiten der eigenen Familiengeschichte sind die Kernthemen des Romans. Ursa verlässt ihre Mutter, um als Bluessängerin aufzutreten. Für ihre Familie war das Singen nicht religiöser Lieder ein Werk des Teufels. Für Ursa ist das Singen von Bluessongs, ein Weg, die Welt und sich selbst zu verstehen.

Hilft mir erklären, was ich nicht erklären kann.3

Bei einem gewalttätigen Streit mit Mutt stürzt sie die Treppe hinunter. Verliert den Fötus im ersten Monat ihrer Schwangerschaft und ihre Gebärmutter. Damit wird auch Ursa ein Opfer von männlicher Gewalt. Die Frauen ihrer Familie erlebten Gewalt über mehrere Generationen. Ihre Urgroßmutter wurde bereits als Kind von dem portugiesischen Sklavenhalter Corredigora vergewaltigt und wurde mit ihrer Großmutter schwanger. Auch ihre Großmutter wurde von Corrigidora vergewaltigt und mit ihrer Mutter schwanger. Diese Familiengeschichte wird ihr bereits mit fünf Jahren erzählt. Der Sklavenhalter verbrannte Dokumente über seine Verbrechen, um Beweise zu vernichten. Deshalb sollen die Nachfahren von Corredigora, Töchter zeugen, um die Verbrechen der Sklavenhalter von Generation zu Generation weiterzuerzählen. Die Töchter als lebender Beweis für die Verbrechen des Sklavenhalters. Ursa weigert sich anzuerkennen, dass sie eine  „Corredigora ist“

Gayl Jones. Corregidora. Kanon Verlag. 1.Auflage 2022. Kanon Verlag. Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann.

<<Aber guck mich an, ich bin nicht Corregidoras Tochter. Kuck mich an, Ich bin nicht Corregidoras Tochter>>5

Beim Betrachten eines Fotos wird ihr klar: Sie ist ein Resultat ihrer grausamen Familiengeschichte. Sie schleppt ihre Familiengeschichte mit sich. Sie identifiziert sich mit dem Leid der vorherigen Generationen, kann sich in sie hinein versetzen. Sie durchlebt noch einmal den Schmerz, das Leid, die Angst, den Schrecken. Dies belastet ihre Beziehungen zu anderen Menschen (Männern). Sie ist verzweifelt und dies erzeugt eine abgrundtiefe Traurigkeit.
Das Ende des Romans lässt verschiedene Interpretationen zu. Nach vielen Jahren trifft sie Mutt wieder. Mutt umarmt die weinende Ursa.

<<Ich will auch keinen Mann, der mir wehtun wird>>4

Zusammenfassung

Bluessongs schaffen beim Zuhörer eine melancholische und sentimentale Stimmung. Der Ton der Erzählung über die Bluessängerin Ursa weckt beim Leser keine sentimentalen Gefühle. Ganz im Gegenteil, die Sprache ist brutal, drastisch und für den Leser eine Zumutung.
Der Roman übernimmt die Umgangssprache der Personen. Inwieweit die Übersetzung ins Deutsche gelungen ist, kann ich nicht beurteilen, weil ich das englische Original nicht gelesen habe. Grundsätzlich ist es natürlich unmöglich, eine Umgangssprache in eine andere Sprache zu übersetzen.
Zum Verständnis trägt das Nachwort der Übersetzerin bei, mit Erklärungen zu den Orten und Personen. Sie geht auch auf die Übersetzungs-probleme ein.

<<Ich traue Schriftstellern, wenn ich das Gefühl habe, ich kann sie hören>>1

Dies beschreibt den erzählerischen Stil der Autorin. Gayl Jones beschreibt weniger Menschen, sondern lässt die Personen sprechen. Durch die vielen Dialoge im Roman hört der Leser die Figuren. 
Der Roman ist aufgebaut wie ein Bluessong mit Call und Response Teilen.6  Auf Ursas inneren Monologen und Träumen antworten die Erinnerung ihrer Großmutter und Mutter. Erinnerungen, die Ursas Leben prägen. Ich gratuliere dem Kanon Verlag für die deutsche Übersetzung dieses lesenswerten Romans.

Popmusik. Billiy Hollyday. Strange Fruit

Noch bis 1964 galt in den Südstaaten der USA die Doktrin: Separate but equal (Getrennt, aber gleich). Öffentliche Einrichtungen wurden von Weißen und Schwarzen getrennt besucht. (Krankenhäuser, Schulen, öffentlicher Nahverkehr etc.). Selbst Wasserspender wurden nach Hautfarbe getrennt. Die Afroamerikaner waren Bürger 2. Klasse, mit qualitativ schlechteren öffentlichen Einrichtungen.
Die Lynchmorde verdeutlichten den Afroamerikanern immer wieder ihren Status als Bürger 2. Klasse und die Macht der weißen Mehrheitsgesellschaft. Sie dienten zur Einschüchterung der Afroamerikaner, damit sie u.a. nicht ihr Wahlrecht wahrnahmen. Nach dem Ende der Sklaverei wurden zwischen 1889 und 1940, 3833 Menschen gelyncht. Die meisten Opfer waren Afroamerikaner und die Mehrzahl der Lynchmorde fand in den Südstaaten statt.7 Lynchmorde wurden von der Mehrheit der Weißen unterstützt. Ein Vollstrecker von Lynchmorden war der Ku-Klux-Klan.
Fotos mit Opfern von Lynchmorden wurden als Postkarten verkauft. Bob Dylans Song Desolation Row bezieht sich mit der ersten Zeile auf diese befremdende Praxis

They’re selling postcards of the hanging8

Auch Billie Holiday erlebte Rassismus, als sie Strange Fruit (Seltsame Frucht) zum ersten Mal, mit 24 Jahren,1939 im New Yorker Jazzclub Café Society sang.  Ein Club mit fortschrittlichen und linksintellektuellen Besuchern. Deswegen konnte Billie Holiday dieses Lied zuerst hier singen.
Ihr Vater starb 1937, weil sich die Krankenhäuser weigerten, einen Afroamerikaner zu behandeln. Bei einem Auftritt im New Yorker Lincoln Hotel musste sie anstelle des Personenaufzugs den Lastenaufzug benutzen. Der Song wurde durch die Jazzsängerin Billie Holiday weltberühmt.
Den Text schrieb und die Melodie komponierte der jüdische Lehrer Adam Meerpol, nachdem er ein Foto von einem Opfer eines Lynchmordes gesehen hatte. Strange Fruit erzählt von einem gelynchten Schwarzen, der mit einem Strick an einem Baum hängt.

Southern trees bear a strange fruit,
Blood on the leaves and blood at the root,
Black body swinging in the Southern breeze,
Strange fruit hanging from the poplar trees.7

Die Südstaaten-Bäume tragen merkwürdige Früchte,
Blut auf den Blättern und Blut an der Wurzel.
Schwarzer Körper baumelt im Südstaaten-Wind;
Merkwürdige Früchte hängen von den Pappeln.7

Der Text beschreibt den Horror des Rassismus in der idyllischen Landschaft des Südens.

Pastoral scene of the gallant South,
The bulging eyes and the twisted mouth,
Scent of magnolias sweet and fresh,
And the sudden smell of burning flesh.7

Idyllische Szene im prächtigen Süden
Die hervortretenden Augen und der verzogene Mund.
Magnolienduft, süß und frisch,
Und der plötzliche Geruch nach verbranntem Fleisch.7

und die letzte Strophe

Here is a fruit for the crows to pluck,
For the rain to gather, for the wind to suck,
For the sun to rot, for the tree to drop,
Here is a strange and bitter crop.7

Dies ist eine Frucht, um von den Krähen zerhackt zu werden,
Auf der der Regen sich sammelt, an der der Wind rüttelt,
Die in der Sonne verrottet, die vom Baume fällt,
Dies ist eine merkwürdige und bittere Ernte.7

Sie singt den Song leise, traurig und ohne Wut. Sie betont bestimmte Wörter und Zeilen. Eine Anklage ist der Text, der die Barbarei der Sklaverei beschreibt. Für die Interpretation dieses Songs gilt die Aussage über Ursa in dem Roman von Gayl Jones

Man konnte ihr anhören, was sie durchgemacht hat9

Billie Holiday hört man an, dass sie täglich Rassismus erlebte. Ein Text, zu dem sich Zuhörer klar positionieren mussten. Bei diesem Song verließen Zuhörer aus Protest den Saal.
Billie Holidays Strange Fruit ist ein eindringlicher und unverwechselbarer Protestsong gegen Lynchmorde und Rassismus.
Mit diesem leidenschaftlichen Song beendete sie ihre Auftritte. Nach diesem verstörenden Song herrschte eine gespenstische Stille.
Der Song löst heftige Reaktionen aus. Konservative Gruppen bezeichneten Strange Fruit als Propagandasong und versuchten die Aufführung zu verhindern. Billie Holiday stand unter der Beobachtung des FBI. Strange Fruit wurde zum ersten Protestsong und für die Bürgerrechtsbewegung zu einer Hymne.

Gayl Jones. Corregidora. Kanon Verlag. 1. Auflage 2022. Kanon Verlag. Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann.
1) S. 207
2) S. 52
3) S. 64
4) S. 205
5) S. 115
9) S. 52
6) Bedeutet „Ruf und Antwort“ und ist eine musikalische Struktur des Blues, aber auch eine Struktur anderer Musikrichtungen wie z. B. dem Jazz. Jemand singt etwas vor und ein anderer Sänger oder ein Chor antwortet. Es handelt sich um einen Wechselgesang. Man kann es auch als ein musikalisches Gespräch bezeichnen. Dieses Wechselspiel kann auch zwischen Musikinstrumenten erfolgen.
7) Wikipedia. Strange Fruit. Lied von Billie Holiday. Abgerufen am 4. August 2023
8) Genius. Bob Dylan.Desolation Row. Abgerufen am 4. August 2023

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